Stephan Sticherling
Jedes Jahr gegen Ende Januar stellt der Pfarrverein der tschechischen evangelischen Kirche in Prag eine beachtliche Studienwoche auf die Beine - in diesem Jahr zum Thema "Ordination".
Wenn man sich eine Woche lang zur gemeinsamen theologischen Arbeit trifft, wird die Möglichkeit geschaffen, ein Stichwort oder Thema unter ganz unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Im Pfarrerinnen- und Pfarrerverein (Spolek evangelických kazatelů) der tschechischen evangelischen Kirche (Ev. Kirche der Böhmischen Brüder) hat das eine lange Tradition. Jedes Jahr gegen Ende Januar treffen sich dazu viele der tschechischen Kolleginnen und Kollegen in der Pädagogischen Fakultät der Karls-Universität mitten in Prag. Ich selbst war zum zweiten Mal dabei, und wie schon im letzten Jahr habe ich gestaunt, was unser Partnerverein auf die Beine zu stellen in der Lage ist. Im letzten Jahr ging es "um einen neuen Himmel und eine neue Erde", in diesem Jahr um die Ordination.
Wegen der langen Anreise konnte ich - anders als im letzten Jahr - am Abendmahlsgottesdienst zur Eröffnung der Woche nicht teilnehmen. Er wird regelmäßig in der Kirche "St. Martin in der Mauer" gefeiert, jener Kirche, in der 1414 zum ersten Mal das Abendmahl in beiderlei Gestalt ausgeteilt wurde, was den Beginn der böhmischen Reformation markiert; sie ist zugleich die Kirche der deutschsprachigen Gemeinde. Alle anderen Veranstaltungen fanden im großen Hörsaal der pädagogischen Fakultät statt.
Tomáš Petráček, katholischer Theologe und Sozialethiker aus Hradec Králové beleuchtete das vom Sakrament her bestimmte priesterliche Amt. So genau er beschreiben konnte, wie sich das katholische Amtsverständnis entwickelt hat, so vage blieb die Aussicht auf die weitere Entwicklung und man spürte das tiefe Nachdenken über das geweihte Amt, das nicht nur die katholische Kirche in Tschechien bestimmt.
Kerstin Menzel wirkt als praktische Theologin an der theologischen Fakultät in Leipzig. Ihr Schwerpunkt ist die Kirchentheorie, besonders mit Bezug auf die ländlichen Räume. 2019 hat sie dazu eine Dissertation mit dem Titel "Kleine Zahlen, weiter Raum" verfasst. In ihrem Prager Vortrag stellte sie den engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Pfarrberufs und den kirchenstrukturellen Entwicklungen dar. In den 1950ger-Jahren ging von ihm eine eher stabilisierende Kraft aus, später kamen Moderation und Kommunikation in den Blickpunkt, Seelsorge und Gemeindepädagogik wurden betont. Wiederum später waren Pfarrerinnen und Pfarrer Verkünder gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, im Sinne einer öffentlichen, lernenden, partizipativen und gesellschaftsbezogenen Theologie. Im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung differenzieren sich auch die kirchlichen Berufe aus. Eine vielfältige Kirche verlangt vielfältige Berufe, und das hat auch Auswirkungen auf den Pfarrberuf. Pfarrerinnen und Pfarrer sind Regisseure kirchlicher Inszenierungen, sie vermitteln und moderieren zwischen den kirchlichen und nichtkirchlichen Akteuren und tragen dabei Verantwortung für Öffentlichkeit und Einheit der Kirche.
Als Gegenbild dazu ließ sich verstehen, was - aus den USA online zugeschaltet - der presbyterianischer Theologe Charles Wiley vermittelte: eine - seine Kirche kennzeichnende - ausgeprägte Skepsis gegenüber dem ordinierten Amt. Nicht jeder Gemeinde muss einen Pfarrer oder eine Pfarrerin haben (so verhält es sich in seiner Kirche auch), viel wichtiger ist die Entfaltung einer "variety of gifts" in den Gemeinde, die durch eine monopolartiges Amt eher verhindert als entfaltet wird. Pfarrerinnen und Pfarrer werden von den Menschen in den Kirchenbänkgen gerne mal als Repräsentant*innen der Kirche oder gar als Stimme Gottes - und damit im gewissen Sinne selbst als Gott - angesehen; Wiley sprach in diesem Zusammenhang gar von der Gefahr von idolatry, Abgötterei und verlangte von den Ordinierten, stattdessen modesty, Zurückhaltung zu wahren. Während bei Menzel die verschiedenen kommunikativen Stränge im Pfarramt zusammengebunden werden sollen, bedarf es dazu nach presbyterianischer Ansicht nicht zwingend des ordinierten Amtes (stattdessen wird hier gerne von einer gemeinsamen, evangliums-orientierten Beaufsichtigung (gospel-centered shared oversight) gesprochen). Es ist ein Irrglaube zu meinen, dass eine Gemeinde nur durch das Pfarramt funktioniere (was, nebenbei bemerkt, im Augsburger Bekenntnis, ja so vorausgesetzt wird). Es ist nicht konstitutiv für das Gemeindeleben, es geht auch ohne das Amt, manchmal sogar besser, weil es die Entfaltung der Gaben- und Aufgabenvielfalt zu verhindern droht. Die Wurzeln dieses Verständnisses vom Amt liegen in der reformierten Tradition, die, anders als die lutherische Tradition, nicht nur das eine Amt, sondern eine Vielfalt von Ämtern kennt.
Ivan Ryšavy ist tschechischer Pfarrer, Theologie und Psychologe; er beleuchtete den Pfarrberuf in psychologischer Hinsicht. Schlüsselbegriff bei ihm ist das Paradigma. Wir folgen, bewusst oder unbewusst, Paradigmen, inneren Bildern von unserem Beruf, die uns in unserem pastoralen Tun bestimmen. Diese Paradigmen wandeln sich, sind sich nicht immer deckungsgleich, können sich reiben und Ursachen für Missverständnisse und Konflikte sein.
Gerade diese Prager Konferenz machte die Bandbreite und Vielfalt der Paradigmen, die das (Selbst-)Verständnis des ordinierten Amtes bestimmen können, eindrucksvoll sichtbar. Man hat den Eindruck, dass die tschechischen Schwestern und Brüder in ganz ähnlichen Diskussionen wie wir stehen. Bei Kerstin Menzel wandelt sich die Kirche von einer (das Bestehende wahrenden und sich entfalten lassenden) Institution zu einer (definierte oder dekretierte Ziele verfolgenden) Organisation und das Pfarramt als inszenierende, vermittelnde und moderierende Instanz spielt da nahezu eine Schlüsselrolle. Bei Charles Wiley ist es gerade das ordinierte Amt, dass die Vielfalt der Gaben und Ämter in der Gemeinde zu verhindern droht, vor allem dann, wenn es monarchisch verstanden wird.
Für mich war dieses Nebeneinander sehr unterschiedliche Paradigmen des Pfarrberufs insofern außerordentlich aufschlussreich, da ich selbst über zwei Jahrzehnte lang in Düsseldorf eine presbyterianische Gemeinde ghanaischer Herkunft begleitet habe. Diese Gemeinde hatte die meiste Zeit - und hat bis heute - keinen eigenen Pfarrer oder keine eigene Pfarrerin. Die Gottesdienste finden in den meisten Fällen ohne Pfarrperson statt. Wenn ich selbst am Gottesdienst beteiligt war, dann als einer unter vielen und die Leitung des Gottesdienstes lag nie in meiner Hand. Das gab den Gottesdiensten in der Regel eine Dynamik und Lebendigkeit, die ich in den eigenen Gottesdienst nicht oft so erlebt habe.
Als Pfarrverein stehen wir in der Tat vor der Aufgabe, die unterschiedlichen Paradigmen, die unser Verständnis vom ordinierten Amt bewusst oder unbewusst beeinflussen, sichtbar und erlebbar zu machen und Kriterien zu ihrer Einordnung und Bewertung zu formulieren. Dass gerade im Blick auf die Frage, wie unsere Kolleginnen und Kollegen sich im Pfarramt verstehen, viel Verunsicherung und viele damit im Zusammenhang stehen Erschöpfungs- und Konfliktphänome wahrnehmbar sind, macht dies zu einer für uns als Pfarrverein und für unsere Kirche vordringliche Aufgabe.
Neben den Fachvorträgen gab es etliche weitere Gelegenheiten zur Begegnung, Bibelarbeiten (auch in kleinen Gruppen), Podiumsdiskussionen, die Kaffeepause in der (mich an eigene Studentenzeiten erinnernde) Cafeteria der pädagogischen Fakultät und die Abendessen in irgendeiner der sehr gemütlichen Prager Kneipen; außerdem hatte die Kirchenleitung die europäischen Gäste zu einem kleinen Empfang eingeladen. Die tschechischen Kolleginnen und Kollegen freuen sich übrigens sehr über europäischen Besuch zu ihrer jährlichen Studienwoche - und so weit ist Prag ja auch nicht weg. Es lohnt sich, selbst hinzufahren. (https://spek.evangnet.cz/)