Eine wichtige Anregung von einem Online-Treffen der Konferenz europäischer Pfarrverbände
am 14. November 2022
Stephan Sticherling
Es ist ein bisschen wie die Frage, was zuerst war, die Henne oder das Ei: Begründet das Predigtamt die Gemeinde oder die Gemeinde das Predigtamt? Ist das Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung im Sinne von CA 5 konstitutiv für die Kirche oder ist es, im Sinne der 4. Barmer These, ein Amt unter vielen, durch das der der ganzen Gemeinde befohlene und anvertraute Dienst ausgeübt wird? Dass sich beides gegenseitig nicht ausschließt, liegt auf der Hand. Es macht aber einen großen Unterschied, ob man das Predigtamt nach Barmen von dem Auftrag an die – bereits existierende – Gemeinde herleitet oder man nach Augsburg als Voraussetzung für deren Existenz ansieht.
Im Rheinland pflegen wir im Allgemeinen der Barmer Lesart zu folgen. Wir beschreiben das Pfarramt als "Gemeindepfarramt", es dient der Gemeinde, handelt in ihrem Auftrag und hängt damit von ihrer Existenz ab. Sobald sie nicht mehr da ist – und das ganze Gemeinden im Zuge der kirchlichen Reformaktivitäten verschwinden können, wissen wir inzwischen – entfällt auch der Daseinsgrund für das Pfarramt, dass ohne Gemeinde nicht denkbar ist. In anderen Kirchen, z. B. in Nordeuropa, orientiert man sich eher an dem Augsburger Bekenntnis. Das hat den Vorteil, das Pfarramt zunächst unabhängig von einer vorhandenen oder nicht vorhandenen oder wie immer auch gearteten Gemeinde wahrzunehmen. So verstanden besteht die Funktion des Pfarramtes darin, die biblische Geschichte durch Wort und Sakrament, durch Präsenz und Ansprechbarkeit, durch Seelsorge und Bildung öffentlich zu repräsentieren, also zu vergegenwärtigen.
Von daher erklärt sich, warum z. B. die Kirche in Dänemark und in Finnland ganz anders als wir mit dem Phänomen des Mitgliederschwundes und des Pfarrermangels umgehen. Während wir, geleitet von betriebswirtschaftlichen Überlegungen, gewohnt sind danach zu fragen, welche Gemeinde (noch) welche Pfarrerin braucht, sehen die nordeuropäischen Kirchen und das Pfarramt zunächst einmal unabhängig davon, was an Gemeinde vorfindlich ist, als öffentliches und öffentlich notwendiges Amt an. Genauso, wie die Kirche ins Dorf gehört, werden Pfarrerinnen und Pfarrer selbstverständlich Teil des Gemeinwesens betrachtet. Sie sind nicht aus dem öffentlichen Leben wegzudenken.
Im Rheinland gehen wir davon aus, dass der Mitgliederschwund zwangsläufig auch zum Pfarrstellenschwund führt, denn die Gemeinden, die Pfarrerinnen und Pfarrer brauchen, werden immer weniger. Das hat zur Folge, dass strukturell und für immer kirchliches Leben verloren geht. Im Norden wird die entgegengesetzte Konsequenz gezogen. Gerade weil wir immer weniger werden, brauchen wir Pfarrstellen und müssen wir darauf achten, dass sie auch besetzt werden. Wir brauchen gute, qualifizierte, hochmotivierte Leute dafür, sagt man dort, die aber auch angemessene Arbeitsbedingungen vorfinden müssen.
Bettina Nørkjær Franch ist Pfarrerin in der Dänischen Volkskirche. Vor kurzem hat sie ihre Gemeinde-Pfarrstelle aufgegeben, weil sie mit der Leitung eines auf vier Jahr befristeten Projekts betraut worden ist, um gegen den drohenden Pfarrerinnen- und Pfarrermangel anzugehen. Viele dänische Kolleginnen und Kollegen werden 2023 pensioniert. Ihre Stellen müssen zunächst vakant bleiben, da nicht genügend Personen bereitstehen, die in der Lage sind, die Nachfolge anzutreten. Die Dänische Kirche ist aber entschlossen, alles dafür zu tun, um auf lange Sicht Menschen für den Pfarrberuf zu gewinnen. Das Projekt von vom Verband der Kirchenräte, den Bischöfen, dem Probsteiverband, dem Pfarrverein und dem Ministerium für kirchliche Angelegenheiten getragen. Es richtet sich an Studierende - viele brechen das Studium vorzeitig ab -, an Vikarinnen und Vikare, Pfarrerinnen und Pfarrern in den ersten Amtsjahren, aber auch an solche, die sich vor der Zeit pensionieren lassen wollen. Der Pfarrberuf ist auf dem ersten Blick nicht attraktiv - seltsame Kleidung, Arbeit am Sonntag, unattraktives Gehalt, Arbeitszeiten u. a. m. Ziel des Projekt ist es, zu informieren, was Pfarrerinnen und Pfarrer alles tun und diesen vielseitigen und herausfordernden Beruf attraktiver zu machen. Wer bereits auf dem Weg dorthin ist, soll begleitet werden und Möglichkeiten des Austauschs bekommen. Bettina Nørkjær Franchs Aufgabe ist es, gute Ideen dazu zu sammeln, zu verbreiten und zu unterstützen, Brücken zu bauen, lokale Ideen umzusetzen und die Kultur des Pfarrberufs aufzuwerten und Pfarrerinnen und Pfarrer zu ermutigen, ihre guten Geschichten zu erzählen. Während wir defensiv und verunsichert eine Pfarrstelle nach der anderen abbauen, angeblich, weil wir keine Volkskirche mehr sind, gehen die Dänen das Thema offensiv, mit Mut und Zuversicht an: Pfarrerin und Pfarrer zu sein, das ist was Großartiges.
Auch in Finnland legen sowohl die Kirche wie der Pfarrverein ihre Aufmerksamkeit auf die Gewinnung und die Ermutigung von Personal für den Pfarrdienst. Dazu muss man wissen, dass die Konfirmandenarbeit in Sommerlagern stattfindet, die in Finnland eine große Tradition haben. Rund 90% der finnischen Jugendlichen nehmen an ihnen Teil; 60 % engagieren sich im Anschluss daran in Kirchengemeinden, und etliche von ihnen wirken später als ehrenamtlich Mitarbeitende in den Sommerlagern mit, von denen viele gebraucht werden. Für die meisten, die später Theologie studieren, trifft das zu.
Für das Theologiestudium in Helsinki, Joensuu oder - schwedisch - in Turku muss man sich bewerben; Teil des Studium sind Praktika in Ortsgemeinden. Sie werden von den Universitäten organisiert; diese Praktika sollen nicht in der Konfirmandenarbeit stattfinden, die die meisten ja schon durchlaufen haben, damit auch andere Aspekte des Pfarrdienstes wahrgenommen werden. Diese Praktika werden in von den Diözesen organisierten Seminaren ausgewertet, die auch für andere kirchliche Berufe offen sind. Um Stärken und Ressourcen für die pastoral Arbeit erkennbar werden zu lassen, werden die Kandidatinnen und Kandidaten, auch psychologisch, auf ihrem Weg intensiv beraten und begleitet. Auch der Pfarrverein sieht hier seine Aufgabe und sucht den Kontakt zu den Theologiestudierenden, die kostenlos Mitglied sein können; dem Vorstand gehört ein Student oder eine Studentin mit beratender Stimme an. Mit der Ordination und dem Antritt der Pfarrstelle werden sie dann zu vollberechtigten Mitgliedern.
Diese beiden Beispiele aus dem Norden zeigen deutlich, dass die bei uns verbreitete tiefe und sich selbst stets verstärkende Verunsicherung - "wir sind keine Volkskirche mehr" - nicht zwangsläufig gegeben sein muss. Es fällt auf, dass sowohl die dänische wie die finnische Kirche bewusst Volkskirchen sind und sein wollen und dementsprechend entschlossen auftreten. Es zeigt sich, dass die Art und Weise des Umgangs mit dem Pfarramt eine Schlüsselrolle spielt. Die Volkskirche braucht ein starkes Pfarramt.
Als Pfarrverein sehen wir in der Stärkung des Pfarramtes einen Schlüssel zur Stärkung der Volkskirche. Damit ist nicht gemeint, dass im Sinne einer Re-Klerikalisierung wieder alle Macht in den Händen der Pfarrerinnen und Pfarrer gebündelt werden soll - das gerade nicht! Aus diesem Grund muss der Dienst an Wort und Sakrament streng unterschieden werden von der Gemeindeleitung, was nach unserer Kirchenordnung keineswegs der Fall ist. Die Gemeinde leitet sich selbst. Weder leitet eine Pfarrerin oder eine Pfarrerin die Gemeinde noch sind er oder sie an Weisungen einer Gemeinde gebunden. Sie müssten nicht einmal notwendig Mitglied des Presbyteriums oder Gemeindevorstands sein. Die Freiheit das Pfarramtes und die Freiheit der Gemeinde bedingen sich gegenseitig. Unsere Kirche braucht starke Gemeinden. Und ein starkes Pfarramt.
Wenn das zutrifft, dann stehen wir vor der Frage, wie die Gemeinden gestärkt werden können, aber auch, wie das Pfarramt gestärkt werden kann. Als Pfarrverein setzen wir natürlich den Akzent auf das Pfarramt. Angeregt durch die erwähnten nordeuropäischen Erfahrungen ist es unser Wunsch, uns nach Möglichkeit zusammen mit der Landeskirche auf den Weg zu einem starken Pfarramt zu machen. Wie könnte es bei uns, unter den bei uns herrschenden Bedingungen, aussehen? Wie lässt es sich ausgestalten? Wie lassen sich Menschen motivieren, ja begeistern, Pfarrerin oder Pfarrer zu werden? Wie können Sie auf ihrem Weg, von der Konfirmation über die Ordination bis hin zu ihrem Ruhestand begleitet, gestärkt, befähigt, ermutigt und getröstet werden?
Da tut sich eine echte Herausforderung auf.