Fragen zu den "Leitsätzen für eine aufgeschlossene Kirche" an Rolf Wischnath:
- Als die Elf Sätze erschienen sind, haben Sie mit heftigen Widerspruch reagiert. Was genau war es, was Sie dagegen aufgebracht hat?
Die Bibel- und Theologielosigkeit der elf Leitsätze. Ihre Gemeindeferne. Die faktische Geringschätzung des Standes der Gemeindepfarrer*innen. Die konsistoriale Anmaßung einer EKD-Abteilung. Und außerdem hat es mich regelrecht verstört, dass dieses Papier u. a. auch die Präses der Westfälischen Kirche, der Ratsvorsitzende und Landesbischof der Ev. lutherischen Kirche Bayerns und der Bischof von Berlin, Brandenburg und der Oberlausitz gebilligt haben.
- Die Neufassung, nun als Zwölf Sätze formuliert, hat die "Elf Sätze" noch mal deutlich verändert. Von „Frömmigkeit“ ist gleich am Anfang die Rede. Es gibt nun einen Leitzsatz zu der in der ersten Fassung übersehenen Seelsorge, der Dienst von Pfarrerinnen und Pfarrern wird nun gewürdigt und auch die Rolle der Ortsgemeinden wird nicht außer Acht gelassen. Sind die Probleme damit beseitigt?
Die am Anfang aufgeführte „Frömmigkeit“ ist die wächserne Nase liberaler Theologie, die sich der „Fromme“ drehen und wenden kann, wie’s beliebt. Die einzige Bedingung für „Frömmigkeit“ ist nur eben, dass sie „authentisch“ sei. Und nun legen Sie einmal die früheren elf Leitsätze neben die von der EKD-Synode verabschiedeten zwölf Sätze. Gibt es - von der von Ihnen genannten Ergänzung abgesehen – einen Leitsatz in der zweiten Auflage, welcher die frühere erste Fassung wesentlich verändert, zurücknimmt oder gar falsifiziert? Was passiert dort mit den biblischen Bezügen? Der scharfsinnige Theologe Friedrich Wilhelm Graf (München) hat einmal von einer „Zurufexegese“ gesprochen.
- Manche sagen aber auch, dass durch die Zwölf Sätze den ursprünglichen Elf Sätzen die Spitze abgebrochen wurde. Ich habe die Meinung gehört, die "Elf Sätze" seien gewissermaßen „durchgefallen“. Trifft das zu?
Man hat sie andächtig verkleidet und ergänzt.
- Werden die "Zwölf Sätze" überhaupt irgendeine Auswirkung auf das kirchliche Geschehen haben?
Das Gemeindeverständnis, wie es in der Barmer These III festgehalten wird, befindet sich in der Auflösung. Gemeinden sollen nur noch Dependance einer „Oberkirche“ sein. Das ist ein riesiger Schaden. - Aber es sollte auch die Rede sein von Besitzstandswahrungen mancher Gemeinden und Landessynoden, wie ich sie kennengelernt habe. Sie sind oft ziemlich abgeschottet. [Manche nennen das auch „strukturkonservativ“.] Und das ist auch ein Problem. Sinnvolle Fusionen – etwa von Kirchenkreisen oder Landeskirchen – sind nur eben schwer vorzunehmen. Zweckmäßige Zusammenlegungen, die die Gemeinden vor Ort stärken und die behördlichen „oberen Ebenen“ schwächen, können oft nur eben schwer umgesetzt werden.
- Die Elf bzw. bzw. Zwölf Sätze sind eine Reaktion die sichtbar gewordene Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels der evangelischen Kirche. Wir sollte Ihrer Meinung nach der Wandel aussehen?
Also, das ist ja eine Frage. Wie sollte ich darauf in einem Interview antworten? Aber drei Aspekte will ich nennen – und die im Ernst:
1. Stets zu singen und zu beten: „Komm Heiliger Geist, Herre Gott, erfüll mit deiner Gnaden Gut deiner Gläub‘gen Herz, Mut und Sinn, dein brennend Lieb entzünd in ihn“ [EKG 125]
2. Stets zu beherzigen: „Gottes Wort muss Widerstand haben, damit man seine Kraft sehe. Tut um Gotteswillen etwas Tapferes“ (Zwingli).
3. Stets zu glauben und zu hoffen: „So wird die Kirche in der Welt erhalten, dass sie auf einmal vom Tode aufsteht, ja am Ende geschieht diese Erhaltung jeden Tag unter vielen solchen Wundern. Halten wir fest: Das Leben der Kirche ist nicht ohne Auferstehung, noch mehr: nicht ohne viele Auferstehungen.“ (Calvin).
- Noch eine Frage mit Blick besonders auf die Rheinische Kirche: Sie haben auf die Emder Synode 1571 hingewiesen. Dort wurde das Modell einer Kirche entworfen, in der die Gemeinden sich unterstützen und keine Gemeinde über der anderen stehen soll. Eignet sich dieses Modell noch als realistische Perspektive für eine Landeskirche zwar mit presbyterial-synodalem Selbstverständnis, aber mit stark konsistorial geprägten Strukturen?
Ja. Wer die Axt an die Wurzel der presbyterial – synodalen Ordnung legt, vergreift sich an einem „Grundstück“ einer evangelischen Gemeinde und einer Synode, in der sich evangelische Gemeinden versammeln. Aber: Man mache es sich nicht zu einfach. Das Konsistorium einer Landeskirche kann auch ein gemeindebezogenes und konstruktives, landeskirchliches und überregionales Büro der Gemeinden sein. Ich habe in meiner Zeit in Westfalen, im Rheinland und in Brandenburg konstruktive und hilfreiche, ihre Kirche und ihre Gemeinden versorgende und unterstützende geistliche Konsistoriale und Juristen erlebt. Natürlich nicht alle. Das ist ja bei den Theologen nicht anders. Jene haben auch ein geistliches Amt, das sich dem Bekenntnis, der theologischen Reflexion und dem Gebet verpflichtet weiß.
- Holger Pyka, ein rheinischer Kollege, hat den Vorschlag einer "palliativen Ekklesiologie" gemacht.1 Damit meint er "eine Lehre von der Kirche, die nicht nur mit dem Abbau einzelner Gemeinden, sondern mit dem Ende der Kirche in der uns bekannten Form rechnet". Sie würde dazu befreien, das Ende der "aus-therapierten" Kirche würdevoll zu gestalten. Ist das lediglich der Sarkasmus eines originellen Theologen oder könnte mehr hinter solchen Ideen stecken?
Also „palliative Ekklesiologie“ – das ist nun aber der schrecklichste Begriff, den ich im Zusammenhang der Debatte um die Reform unserer Kirche höre. Es ist ja ein
Wort des Totenreiches. Und es zu gebrauchen ist Unglaube. Sonntag für Sonntag sprechen wir den dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses. Es wäre doch nur eben von Übel, wenn wir dieses
Bekenntnis nicht tatsächlich auch auf eine dringende Reform unserer Evangelischen Kirche beziehen würden. Noch einmal Calvin: „Obwohl die Kirche zur Zeit kaum zu unterscheiden ist von einem toten
oder doch invaliden Manne, so darf man doch nicht verzweifeln; denn auf einmal richtet der Herr die Seinigen auf, wie wenn er Tote aus dem Grab erweckte. Das ist wohl zu beachten!“
1 Pyka, Holger, Austherapiert. Plädoyer für eine palliative Ekklesiologie:, 2020:
https://kirchengeschichten.blogspot.com/2020/06/austherapiert-pladoyer-fur-eine.html
Prof. Dr. Rolf Wischnath (*1948) war Pfarrer der EKvW und der EKiR. Von 1995 bis 2004 war er Generalsuperintendent in Brandenburg. Der EKD-Synode gehörte er von 1990 bis 2004 an. Von 2005 bis 2019 lehrte er Systematik im Fach Evangelische Theologie an der Universität Bielefeld. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder und vier Enkelkinder. (Die Fragen stellte Stephan Sticherling)