Stephan Sticherling (Düsseldorf)
Der wichtigste der neu gefassten, nunmehr zwölf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche ist der elfte Leitsatz, in dem es um die Strukturen geht: „Die evangelische Kirche wird in Zukunft organisatorisch weniger einer staatsanalogen Behörde, sondern mehr einem innovationsorientierten Unternehmen oder einer handlungsstarken Nichtregierungsorganisation ähneln.“
Dieser Leitsatz macht offenbar, dass die EKD sich zwar sehr entschlossen zeigt, aber in Wirklichkeit nicht weiß, wo sie hinwill. Was denn nun? „Innovationsorientiertes Unternehmen“ oder „handlungsstarke NGO“? Beides zusammen geht nicht. Tatsächlich hat sich die EKD schon längst für das innovationsorientierte Unternehmen entschieden und hofft, dass daraus irgendwie, auf wunderbare und geheimnisvolle Weise eine handlungsstarke NGO wird. Aber wie das passieren soll, bleibt völlig unklar und Illusion.
Für die EKD könnte die Geschichte der Deutschen Bundesbahn als warnendes Beispiel dienen. Wer in meinem Alter ist, erinnert sich vielleicht noch an die heruntergekommenen Bahnhöfe und die scheußlichen Silberlinge mit den schmierigen roten Sitzen. Das war die Zeit, als die Bundesbahn sich durch die Stilllegung einer Bahnstrecke nach der anderen zu sanieren versuchte, so dass am Ende nur die, ich nenne sie mal Leuchtturm- oder Leuchtfeuer-Strecken übrigblieben. Aber statt dass die Bundesbahn sich wirtschaftlich erholte, geriet sie dadurch immer tiefer in die roten Zahlen, woran ich immer denken muss, wenn ich mir zum Beispiel die Stilllegung vieler evangelischer Kirchen in meiner Heimatstadt Düsseldorf vor Augen halte.
Und dann kam Hartmut Mehdorn. Der wollte aus der Einrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge, die die Bahn damals war, ein innovationsorientiertes Unternehmen machen. Mehdorn wollte die Bahn auf Biegen und Brechen an die Börse bringen. Die drastischen Sparmaßnahmen, die er dazu anordnete, sind bis heute spürbar, man denke an die zahlreichen Verspätungen, die Zugausfälle, die Wagen in umgekehrter Reihenfolge und die immer noch vielen verlotterten Bahnhöfe und Bahnstrecken.
Wenn das Unternehmen der Deutschen Bahn heute trotz aller Kritik glänzend dasteht und erfolgreich ist, dann hat das nichts damit zu tun, dass Mehdorn mit seinem Börsengang erfolgreich war, sondern damit, dass er damit gerade gescheitert ist. Dass inzwischen jeder begriffen hat, dass die Bahn nicht als innovationsorientiertes und börsenreifes Unternehmen taugt, sondern weiterhin als Einrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge dringend gebraucht wird und deshalb massiv mit öffentlichen Mitteln, mit Steuermitteln gefördert wird.
Auch die Kirchen eignen sich nicht als innovationsorientierte Unternehmen. Auch die Kirchen sind und bleiben als Einrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge dringend nötig. Auf die öffentliche Daseinsvorsorge, oder, in seinen Worten, den Nutzen des Evangeliums für die Gesellschaft wird Prof. Reinhard Schmidt-Rost gleich zu sprechen kommen.
Hier möchte ich darauf hinweisen, dass wir als Pfarrverein dabeibleiben wollen, theologisch vorzugehen. Wir sprechen von der Theologie, wenn wir nach der Gegenwart und Wirklichkeit Gottes fragen. Dazu gehört auch die Frage, was die Kirche ist. Andreas Kahnt hat in seinem Bericht vor der Delegiertenversammlung der Pfarrvereine in Leipzig darauf hingewiesen, dass die Elf Leitsätze auf Theologie verzichten, nachzulesen im Pfarrerblatt. Die EKD geht nicht theologisch, sondern ideologisch vor. Sie macht sich ein Bild von der Kirche und versucht, so etwas erleben wir jetzt schon, auf Biegen und Brechen an ihre Vorstellungen anpassen. Dieses Biegen und Brechen wird das Problem sein und ist es auch schon jetzt. Wenn die EKD ihr Vorhaben umsetzt, werden wir autoritäres Gehabe, einsame Entscheidungen, Bevormundung, strategisch geschickt durchgewunkene Synodalbeschlüsse, Sachzwänge, alternativlose Fakten, Misstrauen, Depression, Demotivierung, einen Riesen-Verwaltungsaufwand und ganz viel Frust erleben, also all das, was wir gerne vermieden hätten.
Wir, als Pfarrverein, wollen gerne weiterhin theologisch vorgehen und uns vor Ideologie bewahren. Wir fragen weiterhin danach, was die Kirche ist und nicht, wie wir sie gerne hätten oder wie sie nach unserer Meinung sein müsste.
Was ist die Kirche? Dabei erinnern wir uns darin, dass die biblische Geschichte Alten und Neuen Testaments eine Befreiungs- und Freiheitsgeschichte ist. Wir erinnern uns, dass die Reformation im Kern das Ereignis der wiederentdeckten Freiheit eines Christenmenschen ist. „Ein Christ ist ein freier Herr über aller Dinge und niemandem untertan. Ein Christ ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Wenn man diese beiden Sätze aus Luthers in diesem Jahr 500 Jahre alten Freiheitsschrift in einen Begriff zusammenführt, stößt man auf den Begriff der Mündigkeit.
Wir erinnern uns auch daran, dass unsere Kirche vor rund hundert Jahren in einer ähnlichen Krise und in ähnlich massiven Selbstzweifeln wie heute steckte, weil sie keine Staatskirche mehr und der Kaiser nicht mehr ihr oberster Bischof war. Damals stand der Sinn der Menschen in der Kirche auch nicht gerade Freiheit und Mündigkeit. Man suchte das Heil in der Ordnung, in der Autorität, im Gehorsam. Otto Dibelius kündete das Jahrhundert der Kirche an, Karl Barth und seine große Schule verkündete, wie er später in der Barmer Erklärung formulieren wird, das eine Wort Gottes, das wir zu hören und dem wir zu vertrauen und zu gehorchen haben. Und die Berneuchener Bewegung um Wilhelm Stählin und anderen schufen das Modell einer verbindlichen Kirche mit einer festen Regel als Antwort auf die kirchliche Verunsicherung
Offenbar ist ein autoritärer Habitus – vielleicht eine Parallele zum evangelischen Zentralismus unserer Tage? – auch eine Reaktion auf Verunsicherung. Die Zeit zwischen Erstem Weltkrieg und drittem Reich war nicht gerade die Zeit für Basisorientierung oder Kirche von unten, eher für die Bevormundung des Kirchenvolks. Es ist nicht verwunderlich, warum Dietrich Bonhoeffer in der Zeit, in der er die Mündigkeit der Zeitgenossen entdeckte, mit allen dreien Reformbestrebungen wenig anfangen konnte. Er machte sich über das "violette Jahrhundert der Kirche" lustig, grenzte sich aber auch gegen den, wie er es nannte, "Offenbarungspositivismus" Karl Barths ab - "Vogel friss oder stirb", und der Satz: Wer nicht für die Juden schreit, darf auch nicht gregorianisch singen, richtete sich unter anderem gegen die Berneuchener Bewegung, auch wenn die Familie seiner Verlobten ihr nahe stand. Bonhoeffer dachte im Blick auf seine am Diesseits orientierten, religionslosen und mündig gewordenen Zeitgenossen in eine ganz andere Richtung.
Aber so oft seitdem jene entscheidenden Passagen aus den Gefängnisbriefen und jene Begriffe wie Weltlichkeit, Mündigkeit, Religionslosigkeit zitiert worden sind, sie haben sich nicht wirklich auf die Gestalt der Kirche, wie sie sich dann nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt hat, niedergeschlagen. Auf dem, man muss fast schon sagen, berüchtigten ersten Treffen von evangelischen Kirchenführern nach dem Krieg im August 1945 in Treysa bei Marburg flogen die Fetzen, vor allem zwischen dem "Vulkan" Martin Niemöller und dem "Eisberg" Bischof Meiser. Die Frage, die im Raum stand, war: Machen wir dort weiter, wo wir 1933 aufgehört haben oder machen wir die in der Bekennenden Kirche gemachten Erfahrungen und entstandenen Strukturen zur Grundlage einer neuen Evangelischen Kirche?
Wir wissen, dass die beharrenden Kräfte sich weitgehend durchgesetzt haben. Das gilt auch für die Rheinische Kirche, die sich zwar in besonderer Weise der Bekennenden Kirche und der Barmer Erklärung verpflichtet fühlte, aber dann doch das bewährte und vertraute konsistoriale System aus preußischen Zeiten, wenn auch mit gewissen kosmetischen Korrekturen, hinübergerettet hat. Die Entdeckung der Mündigkeit der Zeitgenossen hat sich wenig dabei ausgewirkt, wobei die Zeitgenossen ihre Mündigkeit allerdings auch nicht gerade eingefordert haben.
Ich will nun wahrlich nicht undenkbar sein - so, wie sich die evangelische Kirche nach dem Krieg gebildet hat, so hat sie sich ja auch über Jahrzehnte hin bewährt. Wir selbst sind in dieser Kirche groß geworden und haben uns immerhin so sehr mit ihr identifiziert, dass wir den Pfarrberuf ergriffen haben. Wieviel Freiheit und Wohlstand möglich war, wollen wir wirklich nicht geringschätzen. Wir haben in aller Freiheit und durchaus mit öffentlicher Anerkennung das Evangelium verkünden können, wir haben wunderbare Gottesdienste gefeiert, großartige Kirchentage erlebt, intensiv Theologie betrieben, einen unglaublichen Reichtum an Kirchenmusik genossen - wir können uns wahrlich nicht über Armut oder andere Beschwernisse beklagen.
Aber nun stößt diese uns vertraute Gestalt der Kirche an ihre Grenzen. Darüber besteht Übereinstimmung. Das System der Landeskirchen innerhalb der EKD, so, wie es sich nach dem Krieg entwickelt hat, ist so nicht mehr zukunftsfähig. Dass die Reform-Maßnahmen der letzten Jahre und Jahrzehnte und die Hoffnung, mit Marketing-Methoden, Digitalisierungsprojekten, mit zentralisierter Verwaltung, mit Regionalisierung und ausgiebiger sozialwissenschaftlichen Forschung das Schiff der Kirche wieder flott zu kriegen, daran etwas ändern können, hat sich inzwischen als Trugschluss erwiesen.
Was ist die Kirche? Eines ihrer wichtigsten Erkennungsmerkmale ist, dass in ihr Freiheit und Mündigkeit verwirklicht wird. Jetzt ist die Zeit dafür! Geschieht das nicht, verliert die Kirche ihren Sinn und auf Dauer ihre Existenzberechtigung. Auch wir im Pfarrverein achten darauf, dass Freiheit und Mündigkeit reale Gestalt annehmen. Sie ist derzeit vor allem auf dreifache Weise gefährdet, deswegen engagiere ich mich hier für „die drei Freiheiten der Evangelischen Kirche“:
1. Die Freiheit der Gemeinde
2. Die Freiheit des Pfarramtes
3. Die Freiheit eines Christenmenschen
1. Zur Freiheit der Gemeinde: Nach biblischer Auffassung sind Gemeinden eigentlich als stabile Netzwerke persönlicher Begegnungen und Beziehungen gedacht. Dass man einer Gemeinde angehört, wird auch erkennbar, dass man zur Rechten und zur Linken Menschen hat, unter denen man sich kennt und aneinander Anteil nimmt und zwischen denen Vertrauen besteht und die selber wieder andere Menschen ihres Vertrauens in ihrer Nähe haben. Ortsgemeinden müssten deswegen, wenn sie ihre Wirkung entfalten sollen, nicht möglichst groß, sondern möglichst klein sein. Aber in den letzten Jahren sind die Gemeinden durch Fusionen oder Bildung von Kirchen-Regionen, immer mehr zu riesigen anonymen Großorganisationen geworden, mit erhöhtem administrativem Aufwand für eine behörden-analoge „Mitglieder-Betreuung“. Die „Kommunikation des Evangeliums“ lässt sich aber nicht ohne weiteres von der Ebene der persönlichen Begegnung auf die Ebene der Medien übertragen. Diese können die persönliche Begegnung zwar ergänzen, aber nicht ersetzen. Zur gleichen Zeit wird die Verwaltung immer mehr zusammengelegt und zentralisiert. Durch den notwendig gewordenen Bedarf an Kommunikation, Abstimmung und Verabredung hat sich der Verwaltungsaufwand deutlich erhöht und ist keineswegs, wie erhofft, reduziert worden. Statt dass die Verwaltungen den Gemeinden dienen, arbeiten diese ihr mehr und mehr zu und dienen eher der Verwaltung als umgekehrt. Die Gemeinden sind gezwungen, sich immer größer (und teurer) werdenden Verwaltungssystemen unterzuordnen. Die Verwaltung wäre wahrscheinlich insgesamt deutlich billiger, wenn die Gemeinden sich selbst und eigenverantwortlich verwalten würden. – Ziel muss sein, dass die Gemeinden wieder für sich selbst die volle Verantwortung übernehmen. Allerdings – das muss uns klar sein – können die Gemeinden das nur, wenn sie auch im vollen Umfang für sich selbst haften. Das heißt: Es kann und wird dann auch Gemeinden geben, die nicht mehr existenzfähig sind, die daraufhin in einer anderen Gemeinde aufgehen oder mit ihr fusionieren - wie es umgekehrt auch Gemeinden gibt, die sich, aus welchen Gründen auch immer, aufspalten. Das an sich ist auch nicht Gegenstand dieser Kritik; problematisch sind solche Vorgänge, wenn sie nicht von den Gemeinden selbst angestrebt werden, sondern, Fakten schaffender Weise, auf den Synoden oder höheren Leitungsebenen beschlossen werden. Die Kirchenkreise beraten, vermitteln, unterstützen - aber sie dürfen niemals einer Gemeinde die Verantwortung für sich selbst abnehmen. Das würde jedenfalls dem Selbstverständnis der Rheinischen Kirche mehr entsprechen als das, was gerade geschieht.
2. Zur Freiheit des Pfarramtes: Von der uns in Artikel 51 der Kirchenordnung zugestandenen Freiheit des Pfarramtes dürfte kaum noch etwas übrig geblieben sein. Allein die Ungedeihlichkeits-Paragraphen 86 und 87 des Pfarrdienstgesetzes verhindern sie, weil sie der Willkür im Umgang mit uns Pfarrerinnen und Pfarrern Raum geben (darüber haben wir an dieser Stelle in den letzten Jahren oft genug gesprochen). Der Schutz unserer Freiheit, die wir für den Dienst an Wort und Sakrament, den Unterricht und die Seelsorge, die theologische Reflexion und die Spiritualität brauchen, ist längst nicht in der Weise gegeben, wie es sein müsste. Dass die Kirche sich den Luxus von gründlich ausgebildeten Menschen leistet, die dafür, so ist es eigentlich gedacht, freigestellt werden, ist ein kostbares Gut, dass bewahrt und gepflegt werden muss, wenn es nicht verspielt werden soll. Die Kirche ist kein Apparat, der würde in der Tat Funktionäre brauchen, die sich ums Funktionieren kümmern, sondern sie ist ein lebendes Wesen, das Präsenz, Achtsamkeit und Resonanz braucht – und das ist es, was wir Pfarrerinnen und Pfarrer leisten können und wollen. Wir Pfarrerinnen und Pfarrer sind immer mehr zu Funktionärinnen und Funktionären höherer Leitungsebenen geworden. Wir müssen aber auch zugeben, dass wir uns dazu gerne missbrauchen lassen, weil wir so die Gelegenheit haben zu zeigen, was wir so alles draufhaben. Als Funktionäre (die sich ums Funktionieren kümmern) führen wir aus, was auf der mittleren Leitungsebene beschlossen worden ist und arbeiten wiederum der Verwaltung zu. Wir sind voll eingebunden in Finanz-, Personal- und Gebäudewirtschaft, in der Leitung von Presbyterium, Finanzausschuss, in die Mitwirkung synodaler oder landeskirchlicher Beschlussgremien, wir nehmen die Aufsicht von Kindertagesstätte, Friedhof oder Pflegezentrum wahr, und, und, und. – Wir sind aber nicht dazu da, den Apparat am Laufen zu halten, sondern präsent und resonant darauf zu schauen, was da heranwächst. Dass sich das viel leichter sagt und so ohne weiteres nicht umsetzbar ist, wenn das kirchliche Leben, oder besser: der kirchliche Apparat nicht zusammenbrechen soll, das ist mir auch klar, dazu werden einfach zu viele Schlüsselfunktionen von Theologinnen und Theologen wahrgenommen. Aber der Frage muss erlaubt sein, ob das wirklich so gesund ist - und ob wir nicht erhebliche Ressourcen freisetzen, wenn wir auf Dauer den Dienst an Wort und Sakrament nicht klar von der Gemeinde- und Kirchenleitung trennen. Wir werden als Pfarrerinnen und Pfarrer auch ohne Leitungs- und Verwaltungsfunktionen genügend Möglichkeit haben, auf das kirchliche Geschehen Einfluss zu nehmen, wahrscheinlich sind sie dann sogar größer.
3. Die Freiheit eines Christenmenschen wird schon dadurch eingeschränkt, dass er sich im Normalfall nicht entscheiden kann, welcher Gemeinde er angehören möchte. Das entscheidet sein Wohnsitz, und diesen hat er in der Regel nach anderen Gesichtspunkten ausgewählt und nicht danach, welcher Ortsgemeinde er damit angehört. Dadurch bedingt kommt es zum kirchlichen "Meldewesen", eine komplexe Bürokratie, die behörden-analog und ähnlich wie ein Einwohnermeldeamt die Mitglieder verwaltet. Zwar ist ein Wechsel in einer andere Gemeinde möglich, aber sehr aufwändig. Man kann sich im Regelfall nur dafür entscheiden, der Kirche anzugehören, die Mitgliedschaft in der Ortsgemeinde ist von anderen Faktoren abhängig, nur eben nicht von der persönlichen Entscheidung. Im ländlichen Bereich spielt das eine eher untergeordnete Rolle, da die Wahlmöglichkeiten dort ohnehin nicht so groß sind - dennoch hätten die Gemeindeglieder ein anderes Verhältnis zu ihrer Gemeinde, wenn sie sich selbst aus freien Stücken zu einer Mitgliedschaft in eben dieser Gemeinde (und nicht nur allgemein in der Kirche) entschieden hätten. Die Mitglieder unserer Gemeinden werden immer weniger wie Schwestern und Brüder, wie Glieder am Leib Christi, wie das Volk des Eigentums, sondern zunehmend wie Betreuungsfälle einer Behörde und Kunden eines Dienstleistungsunternehmens behandelt, die bei Laune zu halten sind, da von der u. a. ihre Einkünfte abhängen. Die Kirche macht „Angebote“ für sie, nimmt sie aber nicht mehr in Anspruch, sondern orientiert sich an den Ansprüchen, die sie hoffentlich an die Kirche stellen. Aber statt einfach nur nett zu ihnen zu sein, müsste ihnen klar gemacht werden, dass das Wohl und Wehe einer Gemeinde auch davon abhängt, wie sie selbst ihr Engagement, ihre Phantasie, ihre Entschlossenheit freisetzen und am Gemeindeleben verbindlich mitwirken. Das wiederum wird nur gehen, wenn man sie dazu befähigt und ihnen die Gelegenheit zur Einübung in das Priestertum aller Getauften gibt. Die Antwort auf die Frage nach einer der Kirchenreform ist vor allem in der Bildung zu suchen, nicht nur an Kindern und Jugendlichen, sondern gerade auch an Erwachsenen. Die Freiheit eines Christenmenschen wird, ähnlich wie die Demokratie, nicht auf Dauer funktionieren, wenn man sich darauf beschränkt, die Christenmenschen lediglich für frei zu erklären. Die Demokratie in unserem Land funktioniert deswegen, weil die Wahlberechtigten in vielfältigen Bildungsprozessen instandgesetzt werden, von ihren demokratischen Rechten und Pflichten Gebrauch zu machen. Schon in der Grundschule werden demokratische Verhaltensweisen eingeübt. Demokratie setzt umfassende Bildung voraus. Mit der Kirche und der Freiheit eines Christenmenschen verhält es sich exakt genauso. Es ist erforderlich, den Christenmenschen, Zeitgenossen und Getauften die Gelegenheit zu geben, ihre Freiheit, ihre Mündigkeit, ihr Priestertum einzuüben. Hier also geht es um ein umfassendes und allgemeines Elementarkatechumenat. Der (im allgemein gut funktionierende) Konfirmandenunterricht und die in den letzten Jahrzehnten praktizierten Glaubenskurse bieten dafür Anknüpfungspunkte, aber sie reichen mit Abstand nicht aus. Es kann nicht mehr nur darum gehen, Verstehenshilfen und Aneignung von „Glaubenswissen“ anzubieten. Es müssen vielmehr Gelegenheiten geschaffen werden, die Fähigkeit, selber Kirche zu sein, einzuüben und zu üben. Die Praxis des geistlichen Lebens, Gebet, Kontemplation, Gelassenheit, muss eingeübt und geübt werden. Der Umgang mit der Heiligen Schrift muss eingeübt und geübt werden. Die Feier des Gottesdienstes, sowohl im öffentlichen Raum wie auch in der kleinen Gruppe muss eingeübt und geübt werden. Die gegenseitige Wahrnehmung, Achtsamkeit und Seelsorge muss eingeübt und geübt werden. Den eigenen Glauben mitzuteilen und ihn mit anderen zu teilen muss eingeübt und geübt werden. Verantwortung im öffentlichen Raum zu übernehmen muss eingeübt und geübt werden. Die Gemeinde zu leiten und zu verantworten muss eingeübt und geübt werden.
Hier muss eine umfassende Kirchenreform einsetzen. Wenn der gedeihliche Wandel unserer Kirche von der Verwirklichung dieser drei Freiheiten abhängt, dann muss der Blick der Reformbemühungen also sich vor allem auf Bildung und Katechumenat, gerade auch für Erwachsene, richten. Die Freiheit des Pfarramtes wird es uns Pfarrerinnen und Pfarrern ermöglichen, für ein solches elementares Bildungsgeschehen zur Verfügung zu stehen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Dieses wiederum ist Voraussetzung dafür, dass die Gemeinden im vollen Umfang für sich selbst Verantwortung übernehmen können, und auch dafür, das die Christenmenschen sich in ihrer Freiheit und Dienstbarkeit, im Wagnis des Vertrauens und in der Übernahme der Verantwortung üben können. Meine Bitte an die, die die Kirche leiten, ist: Traut den Gemeinden und auch uns Pfarrerinnen und Pfarrern - durchaus im Sinne einer Schwarmintelligenz (die im Neuen Testament Heiliger Geist heißt) das doch zu! Da wird viel Mist gebaut werden. Da wird viel schiefgehen. Aber es wird viel Neues und viel Tragfähiges und viel Zukunftsträchtiges entstehen, was in einer Kirche von oben keine Chance hätte. Bei den Ausführungen von Prof. Schmidt-Rost gleich im Anschluss wird deutlich werden, dass genau darin die entscheidende Voraussetzung dafür liegt, dass das Evangelium in die Gesellschaft hineinwirken und einen Kontrast gegen die dominanten gesellschaftlichen Kräfte setzen kann, wozu es sonst kaum in der Lage wäre. Von der Berneuchener Bewegung war schon die Rede. Ich gehöre ihr als Michaelsbruder selbst an, nicht zuletzt um ihres Leitsatzes willen, der exakt das zur Sprache bringt, worum es eigentlich geht: Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind. Das ist ein anderer Ton als der, der in den „Zwölf Leitsätzen“ anklingt.
Als Pfarrverein sind wir die Interessenvertretung unseres Berufstandes, auch gegenüber unserem Arbeitgeber. Anders als die Pfarrvertretung sind wir unabhängig und nicht Teil der verfassten Kirche. Das gibt uns Möglichkeiten, die wir nutzen sollten. Der Vorstand des Pfarrvereins ist sich in der Einschätzung der Lage einig. Die Frage ist, wie unsere Mitglieder das sehen. Sollte ein großer Teil, die große Mehrheit unserer Mitgliedschaft die Einschätzung des Vorstandes teilen, müssten wir beraten, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Ideen dazu liegen vor, aber wir sollten uns zunächst über das Grundsätzliche verständigen.