Jüdisches Leben in Deutschland. Rückblick und Ausblick

Wenn sich Rheinländer am 11.11. versammeln, geht es eigentlich um jeckes Treiben. Und so würde ich heute am Liebsten nur über fröhliche Ereignisse in der jüdischen Welt berichten: über unseren Kölner Karnevalsverein, die „Kölsche Kippa Köpp“, der 2017 gegründet wurde. Oder über den Toleranz-Karnevalswagen letztes Jahr im Düsseldorfer Karnevalszug, der hoffentlich wiederholt wird und der von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam gestaltet wurde.

 

Aber wir haben auch vor kurzem den 60. Jahrestag der Wiedereinweihung der Kölner Synagoge gefeiert. Und unsere Vorbereitungen auf das Jubiläum „321 - 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ laufen auf Hochtouren. Und es gäbe viele weitere Feste und Ereignisse zu nennen, die in den jüdischen Gemeinden landauf, landab mit Freude und Spaß begangen wurden oder auf die wir mit großer Vorfreude blicken.

 

Doch vor ziemlich genau einem Monat machte sich in Halle ein Mann auf den Weg, um Juden umzubringen. Er war bis an die Zähne bewaffnet und G.s.D. kein guter Schütze. Zwei unschuldige Menschen mussten wegen seiner rechtsextremistischen Gesinnung mit ihrem Leben bezahlen. Die Menschen, die in der Synagoge in Halle um ihr Leben bangten, und ebenso jene, die im Döner-Imbiss dabei waren, werden noch viel Kraft brauchen, um diesen Tag – Jom Kippur – verarbeiten zu können.

 

Mein Besuch hier bei Ihrem Jubiläums-Pfarrerinnen- und Pfarrertag hat also eine Aktualität bekommen, die eine ausschließlich fröhliche Rede unmöglich macht. Aber das hatten Sie ja ohnehin nicht erwartet. Ich vermute, es ist Zufall, dass Ihre Tagung auf das närrische Datum des 11.11. fällt.

 

Verehrte Damen und Herren, 

ich möchte Ihnen heute einen Überblick geben über das heutige jüdische Leben in Deutschland und auch über die Stimmungslage, die derzeit in der jüdischen Gemeinschaft anzutreffen ist.

 

Lassen Sie mich zunächst ein paar grundlegende Informationen nennen. Denn es gibt in Deutschland so allerlei Vorstellungen über Juden – mit der Realität hat das nicht immer viel zu tun.

 

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist klein. Es sind gar keine Millionen, sondern viel weniger. Die jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland, die zum Zentralrat der Juden gehören, haben rund 100.000 Mitglieder.

Es gibt auch noch Juden in Deutschland, die nicht Mitglied einer Gemeinde sind, auch einige Israelis. Wenn wir sehr großzügig schätzen, kommen wir auf eine Gesamtzahl von 150.000.

 

Dass die Zahl der Juden hierzulande so klein ist, hat natürlich historische Gründe. Das muss ich hier nicht näher erklären. Die Zahl wäre noch viel kleiner, wenn nicht seit 1990 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert wären.

Unsere Gemeinden bestehen zu 90 Prozent aus Einwanderern. Die Muttersprache der meisten Juden ist russisch. Auch das ist vielen Bürgern in Deutschland unbekannt.

 

Wenn Sie also Experten für Integration suchen, können Sie gerne in einer unserer Gemeinden vorbeischauen!

Wir haben diese Expertise übrigens tatsächlich in die Arbeit mit Flüchtlingen seit 2015 einbringen können. Und wenn Sie vom Zentralrat der Juden Forderungen hören, was bei der Integration der Flüchtlinge beachtet werden sollte und dass wir bessere Lehrpläne für die Integrationskurse brauchen – dann sind diese Forderungen nicht aus einem Bauchgefühl entstanden, sondern ganz handfest aus unseren eigenen Erfahrungen mit Zuwanderung.

 

Es geht eben nicht nur darum, Deutsch zu lernen. Wir müssen genauso viel Mühe darauf verwenden, unsere Werte zu vermitteln. Oder eben im Fall der jüdischen Zuwanderung hatten wir die Aufgabe, unsere Religion zu vermitteln. Denn viele Zuwanderer hatten in der damaligen Sowjetunion gar keine Möglichkeit, die jüdischen Traditionen zu pflegen. Sie mussten erst wieder an die jüdische Religion herangeführt werden.

 

Inzwischen haben sich nicht nur die Einwanderer gut integriert, sondern deren Kinder und zum Teil schon Enkel fühlen sich in Deutschland wirklich zu Hause. Sie identifizieren sich gleichermaßen mit diesem Land und mit dem Judentum. Sie können das unter anderem daran ablesen, dass laufend jüdische Schulen entstehen. So wurden in den letzten Jahren in Düsseldorf und München neue jüdische Gymnasien gegründet. Auf diese Schulen gehen natürlich auch nicht-jüdische Schülerinnen und Schüler – das ist ja bei Schulen in kirchlicher Trägerschaft nicht anders – doch ich halte solche konfessionellen Schulen für außerordentlich wichtig. Denn nicht immer ist das Elternhaus in der Lage, die religiöse Identität der Kinder zu festigen. Hier leisten die Schulen einen wertvollen Beitrag. Auch ich selbst habe eine katholische Grundschule besucht.

 

Und damit wäre ich schon bei einem Thema angelangt, das mir sehr wichtig ist: der Bildung.

Nach dem Anschlag von Halle ist die Frage, wie wir Antisemitismus und Extremismus bekämpfen können, wieder lauter gestellt worden.

 

Und eine einfache Antwort gibt es nicht. Auch nicht einen einzigen Königsweg.

 

Doch die Schulen nehmen meines Erachtens eine Schlüsselrolle ein. Und dabei übrigens gerade der Religionsunterricht.

Ich bin kein Pädagoge oder Theologe, daher möchte ich etwas allgemeiner über die Schulen sprechen.

 

Eltern und Lehrer haben heutzutage etwas gemeinsam, und zwar stärker als früher: Sie wissen nicht, was ihre Kinder bzw. Schüler spielen, ansehen, liken oder teilen. Sie wissen häufig auch nicht, mit welchen Bildern die Jugendlichen konfrontiert werden. Und was vielleicht unverarbeitet und Angst machend in ihren Köpfen bleibt. Die digitale Welt hat einen so großen Einfluss gewonnen, dass wir sie im Bereich Bildung immer mit-denken müssen.

 

Schon vor der Digitalisierung waren Jugendliche auch Einflüssen außerhalb des Elternhauses und der Schule ausgesetzt. Doch wenn wir uns daran erinnern, dass es Zeiten gab – und die sind gar nicht so lange her – als Eltern es ihren Kindern verboten, die „Bravo“ zu lesen, so würden heute Eltern mit den gleichen Wertmaßstäben vermutlich seufzen: Die Lektüre der „Bravo“ wäre ja harmlos. Die Youtube-Videos und Computerspiele, die mein Kind heute konsumiert, sind von ganz anderem Kaliber.

 

Hinzu kommen die sogenannten sozialen Medien. Auf Facebook und Twitter erleben die Nutzer, dass es offenbar normal ist, sich gegenseitig zu beleidigen, Menschen zu denunzieren, abzuwerten und Hass zu säen. Einer solchen verrohten Kommunikation waren junge Menschen vor wenigen Jahrzehnten noch nicht in dieser Breite ausgesetzt.

 

Auch für die Verbreitung von Antisemitismus bieten die sozialen Medien beste Voraussetzungen. Alte judenfeindliche Stereotype werden dort in einer beängstigenden Häufigkeit reproduziert. Rechtsextremisten und auch Islamisten nutzen diese Plattformen gezielt für ihre antisemitische Propaganda.

 

Wie entsetzlich die Folgen dieses Medienkonsums sein können, hat sich vor zwei Wochen in Halle gezeigt. Der Rechtsextremist, der dort die Synagoge angegriffen und zwei Menschen getötet hat, hat sich - so lauten jedenfalls alle Berichte – sehr viel im Netz bewegt und war in Gruppen aktiv, in denen Anschläge mit besonders vielen Toten gefeiert werden. Es ist davon auszugehen, dass sich dieser junge Mann über das Internet radikalisiert hat.

 

Halle hat gezeigt: Zum einen müssen – und das ist die traurige Realität in Deutschland im Jahr 2019 – jüdische Einrichtungen stärker geschützt werden als bisher.

 

Zum anderen müssen wir gesellschaftlich auf allen Ebenen und in allen Bereichen – und da gehört die virtuelle Welt dazu – stärker gegen alles vorgehen, das der Menschenwürde widerspricht.

 

2018 hat die Technische Universität Berlin eine Langzeit-Studie über Antisemitismus im Netz veröffentlicht. Die Wissenschaftler stellten dabei ein – ich zitiere – „nie zuvor da gewesenes Ausmaß“ an judenfeindlichem Gedankengut fest. Sie sprachen von einer „Omnipräsenz von Judenfeindschaft (…) als Teil der Webkommunikation 2.0“. Das Internet muss der Studie zufolge als Beschleuniger gesehen werden für die Normalisierung von Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft.

 

Die Befunde der Wissenschaftler der TU bestätigen sich in einer Umfrage der EU-Grundrechteagentur, die ebenfalls im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Darin gaben 82 Prozent der befragten Juden an, im Internet schon Antisemitismus erfahren zu haben. Am häufigsten von allen gesellschaftlichen Bereichen wurde Antisemitismus in den sozialen Medien als starkes Problem wahrgenommen.

 

Ist es dann verwunderlich, meine Damen und Herren, dass das Wort „Jude“ auf dem Schulhof als Schimpfwort benutzt wird?

Ehrlich gesagt: Leider nicht.

 

Die meisten Bürger in Deutschland, und das gilt natürlich auch für Schüler, kennen zwar keinen Juden persönlich. Oder zumindest ist ihnen nicht bewusst, dass der Kollege oder Nachbar jüdisch ist.

 

Dennoch sind antisemitische Vorurteile von Generation zu Generation weitergegeben worden. Denn kein Baby wird hasserfüllt geboren. Kein Kind ist aus sich selbst heraus antisemitisch, rassistisch oder sexistisch.

 

Heutzutage wirkt jedoch nicht nur die Erziehung zu Hause auf die Heranwachsenden ein, sondern eben, wie bereits erwähnt, ganz massiv die digitalen Medien.

 

Deshalb brauchen wir digitale Bildung. Denn worum geht es? Es geht darum, jungen Menschen ein so stabiles Wertegerüst mitzugeben, dass sie sowohl in der Lage sind, sich eigenständig ein Urteil zu bilden, als auch, sich damit selbst zu schützen. Es ist einer unserer vordringlichsten Aufgaben, die Jugend gegen rechts zu impfen und zu imprägnieren.

 

Im Mittelpunkt dieser Wertevermittlung sollte meines Erachtens der Umgang mit anderen Menschen stehen, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem mit Minderheiten. 

 

Wir erleben heute, dass Missgunst, Vorurteile und ja, purer Hass gegen Menschen anderer Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung wieder präsent sind und sich ausbreiten. 

 

Um beim Thema Antisemitismus zu bleiben:

Es gab Fälle, in denen jüdische Schüler ihre Schule verlassen mussten, weil sie verbal und sogar tätlich angegriffen wurden.

An einem Gymnasium in Berlin-Wedding beispielsweise wurde ein Schüler von seinen Mitschülern mit folgenden Worten bedrängt: „Man soll den Juden die Köpfe abschneiden. Hitler war gut, denn er hat die Juden umgebracht!“.

Oder ein anderer schockierender Vorfall: Ein Mädchen wurde in einer Grundschule – ich wiederhole - in einer GRUNDSCHULE mit dem Tode bedroht, nur weil sie jüdisch war.

 

Und ebenso nehmen die Schüler über das Netz Vorurteile auf gegenüber anderen Minderheiten, wie Ausländern oder Muslimen, wie Homosexuellen oder behinderten Menschen. Manche Kinder haben vielleicht noch nicht verstanden, dass diese Witze nicht witzig sind, sondern verletzend. Viele Jugendliche durchdringen dies intellektuell auch nicht, wissen aber sehr wohl, dass sie mit entsprechenden Bemerkungen provozieren können.

 

Gerade die Schulbildung trägt jedoch entscheidend zur Vermittlung positiver Werte bei. Werte, die auch in unserem Grundgesetz verankert sind, dessen 70. Geburtstag wir in diesem Jahr begangen haben.

Gleichheit aller Menschen, Religions- und Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, um nur einige zu nennen – dies alles gründet auf den Lehren unserer Vergangenheit.

 

Und deswegen finde ich es auch unumgänglich, um die Vergangenheit wissen zu müssen.

 

Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung im Jahr 2017 wissen vier von zehn Schülern nicht wofür Auschwitz steht.

 

Eine 2018 veröffentlichte Studie des Nachrichtensenders CNN fand heraus, dass 40 Prozent der Deutschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren nach eigener Einschätzung „wenig bis nichts über den Holocaust wissen“.

 

Die Freiheiten und Grundrechte, auch die universellen Menschenrechte, die wir heute zum Glück haben und als selbstverständlich erachten, entstanden jedoch nicht ohne Grund.

 

Sie sind die Konsequenz aus der Nazi-Barbarei und die Schlussfolgerung aus der Schoa mit sechs Millionen jüdischen Opfern der Nazidiktatur.

 

Seitdem heißt es „Nie wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“. Aber um es nie wieder geschehen zu lassen, muss man eben doch wissen, was überhaupt geschehen ist.

 

Wir dürfen es daher nicht zulassen, dass die Wissenslücke noch größer wird. Denn klar ist, nur wer sich der Vergangenheit bewusst ist, kann in der Gegenwart für eine friedliche Zukunft agieren.

Daher stellt sich die Frage, ob sich in der Schulbildung etwas ändern muss, damit die Krankheit „Unwissen über die Schoa und über das Judentum generell“ verschwindet.

 

Es ist in der Tat nämlich so, dass wir nicht behaupten könnten, die Wissensvermittlung über das Judentum sei in Deutschland wirklich zufriedenstellend. Hier gibt es durchaus Defizite.

 

Der Zentralrat der Juden ist über die vergangenen Jahre zu der Erkenntnis gekommen: Obwohl das Wissen vieler Jugendlicher über den Holocaust so gering ist, kommt das Judentum als Thema in der Schule überproportional viel im Zusammenhang mit der Schoa vor. In vielen Schulbüchern werden Juden ausschließlich als Opfer präsentiert.

Die reiche jüdische Tradition, die Religion an sich, wichtige jüdische Denker und Rabbiner, der Beitrag des Judentums zur deutschen Kultur – das kommt hingegen meistens zu kurz.

 

Der Zentralrat der Juden hat angesichts dieser Defizite mit der Kultusministerkonferenz Ende 2016 in einer Gemeinsamen Erklärung das Ziel formuliert, die jüdische Religion, Kultur und Geschichte breiter als bislang in den Schulen zu vermitteln. Auch in der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern sollen diese Themen künftig eine größere Rolle spielen.

Um unsere gemeinsame Erklärung mit der KMK mit Leben zu füllen, haben wir als ersten Schritt eine kommentierte Materialsammlung für Lehrer online gestellt. Dort finden Sie zu den Bereichen Jüdische Geschichte und Gegenwart, Jüdische Religion, Israel und Antisemitismus Einordnungen zu didaktischem Material, das wir für empfehlenswert halten. Diese Materialsammlung wird fortlaufend von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe ergänzt. Wir hoffen, dass die Schul- und Kultusministerien der Länder für eine Verbreitung dieser Materialien sorgen.

 

Die Themenbereiche Antisemitismus und Israel haben wir bewusst in diese Materialsammlung aufgenommen. Darüber hinaus haben wir gerade eine neue gemeinsame Arbeitsgruppe des Zentralrats und der Kultusministerkonferenz ins Leben gerufen, um die Bekämpfung des Antisemitismus stärker in die Lehrer-Ausbildung aufzunehmen.

Lehrkräfte sind heutzutage mit ganz unterschiedlichen Formen von Antisemitismus konfrontiert. Dann immer adäquat zu reagieren, ist eine Herausforderung. Und sicherlich gibt es dann auch unter Lehrerinnen und Lehrern Unsicherheiten und die Sorge, etwas falsch zu machen.

 

Angesichts der hohen Erwartungen, die heutzutage allgemein an die Schulen gerichtet werden, finde ich es nur fair, sowohl die Lehrerausbildung in dieser Hinsicht zu verbessern, als auch, den Lehrkräften gutes Material an die Hand zu geben.

Gerade in Schulklassen mit vielen Kinder aus Familien aus dem arabischen Raum kann eine Schulstunde, die die Schoa zum Thema haben sollte, in einer hitzigen Diskussion über den Nahostkonflikt enden. In Berlin ergab eine kleine Umfrage – sie war nicht repräsentativ, aber ein Schlaglicht – dass muslimische Schüler zum Teil beim Thema Holocaust den Unterricht verlassen haben.

Auch in den Schulbüchern gibt es Mängel. In vielen Religions- und Ethikbüchern wird das Judentum verzerrt, folkloristisch oder klischeehaft dargestellt. Wir sind daher an die großen Schulbuch-Verlage herangetreten, die sich offen zeigten für die Kritik. Vor wenigen Tagen haben wir gemeinsam mit dem Verband Bildungsmedien eine Workshop-Reihe gestartet, um mit Schulbuch-Redakteuren über eine adäquate Darstellung des Judentums zu sprechen.

Neben guten Lehrmaterialien – da waren wir vom Zentralrat der Juden und die Kultusminister sich einig – sind auch persönliche Begegnungen mit Juden wichtig. Die Förderung solcher Begegnungen haben wir in der eben erwähnten Gemeinsamen Erklärung von 2016 ebenfalls festgehalten.

Die eindrücklichsten Begegnungen, die denkbar sind, sind meistens jene mit Schoa-Überlebenden. Ich hoffe, dass einige von Ihnen dies schon einmal erlebt haben. Wenn ein Zeitzeuge seine Erinnerungen erzählt und das Geschehen, das inzwischen so weit weg liegt, plötzlich ganz lebendig wird, ganz greifbar, dann kenne ich niemanden, der unberührt den Raum verlässt. Für die Zeitzeugen ist das übrigens auch eine ganz positive Erfahrung. So schmerzhaft es zwar für sie ist, ihre Erinnerungen aufleben zu lassen, so wohltuend ist es für sie zugleich, das Interesse der Zuhörer zu spüren, ihre Wertschätzung und ihre Tränen.

 

Der Lauf der Zeit bringt es mit sich, dass immer weniger Zeitzeugen so rüstig sind, vor Publikum oder vor einer Schulklasse aufzutreten. Es ist daher ungeheuer wichtig, dass wir möglichst viele Filmaufnahmen von Überlebenden haben, wie es etwa die Shoa-Foundation von Steven Spielberg gemacht hat. Zwar können diese Aufnahmen das echte Gespräch nicht ersetzen. Sie sind für künftige Zeiten dennoch ein sehr gutes Mittel, um den heute Lebenden auch einen emotionalen Zugang zum historischen Geschehen zu ermöglichen.

 

Begegnungen mit Juden wollen wir aber auch deshalb fördern, um die Schülerinnen und Schüler mit dem heutigen jüdischen Leben vertraut zu machen. Der Zentralrat hat daher 2017 das Projekt „Likrat - Jugend und Dialog“ gestartet. Sie, verehrte Pfarrer, haben alle Hebräisch gelernt, aber die deutsche Übersetzung des Wortes „Likrat“ will ich dennoch nennen: „aufeinander zu“.

Für das Projekt haben wir inzwischen 150 Jugendliche, Likratinos genannt, zwischen 15 und 19 Jahren ausgebildet. Die Likratinos besuchen jeweils in Zweier-Teams Schulklassen. Dort erklären sie gleichaltrigen Schülern – also auf Augenhöhe – was ihr Judentum ausmacht, wie ihr jüdischer Alltag aussieht, und - ja auch welchen Vorurteilen sie mitunter ausgesetzt sind. In mehreren Seminaren bereiten wir die Jugendlichen auf ihre Einsätze in Schulen vor, damit sie sowohl für alle Fragen als auch gegen mögliche verbale Attacken gewappnet sind.

 

Für die Schulklassen ist dies häufig das erste Mal, dass sie Juden in ihrem Alter kennenlernen. Die Hemmschwelle, alle Fragen loszuwerden, ist gegenüber Gleichaltrigen natürlich viel niedriger als gegenüber Erwachsenen oder gar Autoritätspersonen wie einem Rabbiner. Daher kommen meistens sehr lebhafte Gespräche zustande. Und die Jugendlichen gehen mit einer sehr wichtigen Erkenntnis nach Hause: Die sind zwar jüdisch, aber eigentlich gar nicht anders als wir. Unsicherheit im Umgang miteinander verschwindet dann.

 

Und gerne verrate ich Ihnen auch schon: Dieses Projekt möchten wir ausweiten auf Erwachsene. Unter dem Titel „Meet a Jew“ wollen wir solche Begegnungen zum Beispiel auch in Sportvereinen ermöglichen.

Neben Begegnungen halte ich auch Besuche von Gedenkstätten während der Schulzeit für wichtig. Man sieht mit eigenen Augen den Ort des Geschehens und begreift die Wahrhaftigkeit. Einer solch verpflichtenden Klassenfahrt stehe ich sehr positiv gegenüber.

Ich bin davon überzeugt, dass es auch mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zum Geschehen und auch in unserer Einwanderungsgesellschaft möglich ist, Empathie mit den Opfern zu schaffen.

Lassen Sie mich darauf kurz eingehen:

 

Es gibt meines Erachtens zwei sehr gute Wege, um Schülerinnen und Schülern auch emotional mit der Schoa zu konfrontieren. Neben Filmen sind dies zum einen Besuche von Gedenkstätten, zum anderen sind es Projekte wie die Stolpersteine.

In den KZ-Gedenkstätten können junge Menschen auch heute noch die Dimension der NS-Verbrechen viel besser erfassen als aus dem Schulbuch. Empathie mit den Opfern und Verantwortungsbewusstsein entstehen nicht anhand nackter Zahlen. Eine individuelle Auseinandersetzung mit der Nazizeit gelingt besser an den Orten, an denen die Verbrechen geschahen.

Auch für Schüler mit Migrationshintergrund finde ich solche Besuche in Gedenkstätten sinnvoll. Ich bin gar nicht pessimistisch, dass sich die Erinnerung an die Schoa nicht auch in einer Migrationsgesellschaft vermitteln lässt.

Unter den Migranten sind viele Menschen, die selbst Diskriminierung und Rassismus erlebt haben oder immer noch erleben. Es sind Menschen darunter, deren Familien aus ihrer Heimat fliehen mussten, Menschen, die in Diktaturen, in Flüchtlingslagern oder Armut gelebt haben. Warum sollten diese Menschen weniger in der Lage sein, Empathie für die Opfer der Schoa aufzubringen? Oder warum sollten sie weniger interessiert sein an der Frage, wie es dazu kommen konnte.

Solche Besuche müssen pädagogisch gut vor- und nachbereitet werden. Daher sollten sie Bestandteil der Curricula werden, damit auch Zeit dafür da ist.

 

Die Stolpersteine habe ich genannt, weil sie ein gutes Beispiel für die Befassung mit der Lokalgeschichte sind. Zu erfahren, wie die Judenverfolgung am eigenen Ort von statten ging, ist für junge Menschen ebenfalls eine gute Möglichkeit, einen eigenen Zugang zur Geschichte zu finden.

 

Die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig, der übrigens in Köln mit seinem Kunstwerk begonnen hat, sind inzwischen in mehr als 20 Ländern Europas verlegt, insgesamt rund 70.000 Steine.

 

Ich halte sie für eine geeignete und moderne Form des Gedenkens. Denn sie überraschen uns mitten im Alltag. Bürger werden mit der Geschichte konfrontiert, ohne dafür aktiv einen Erinnerungsort oder ein Museum aufsuchen zu müssen.

Zugleich wird für jedermann sichtbar: Die Juden, die im Nationalsozialismus entrechtet, verfolgt und ermordet wurden, lebten ganz normal mitten im Ort. Sie verschwanden, und die wenigsten haben sich dafür interessiert, wohin.

Die Stolpersteine regen zum Nachdenken und Nachfragen an. Sie werfen sehr direkt die Frage auf, wie die Verfolgung so vieler unschuldiger Menschen möglich war, obwohl sie nicht im Geheimen geschah.

 

Zum Kunstprojekt Stolpersteine gehört auch die Recherche, die der Verlegung eines Steins vorausgeht. Gunter Demnig macht es den Menschen zum Glück nicht bequem und erledigt das für sie. Wer einen Stolperstein verlegen lassen möchte, wird Pate dieses Steins und muss selbst nachforschen: Wer wohnte in meinem Haus? Wohin wurden die Menschen verschleppt? Wie wurden sie ermordet? Gibt es noch Angehörige? Jeder einzelne Stein offenbart ein Schicksal.

 

Für Schulklassen ist das eine hervorragende Möglichkeit, um sich ganz intensiv und sehr anschaulich mit der Geschichte zu befassen. Und so bin ich den zahlreichen z.B. Kölner Gymnasien dankbar, dass sie jedes Jahr nach  intensiver Recherche vor ihrem Schulgebäude Stolpersteine verlegen.

 

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

wenn ich Ihnen einen Eindruck von unseren jüdischen Gemeinden geben möchte – und das ist gar nicht so leicht, weil sie so verschieden sind – dann muss ich auch ein leidiges Thema erwähnen, das Ihnen ebenfalls nicht unbekannt ist: der Mitgliederschwund.

 

Ähnlich wie in den Kirchen ist die Altersstruktur unserer Gemeinden ungünstig. Rund die Hälfte der Gemeindemitglieder ist über 60 Jahre alt. Bei Gemeinden, die nur 500 Mitglieder haben, hat diese demographische Entwicklung jedoch viel dramatischere Auswirkungen als in Gemeinden, die sich in Größenordnungen von katholischen oder evangelischen Pfarrgemeinden bewegen.

Daher machen wir uns seit längerem Gedanken darüber, wie wir neue Mitglieder gewinnen können. Vor allem findet dies natürlich vor Ort statt, in den einzelnen Gemeinden. Doch auch der Zentralrat der Juden hat in jüngster Zeit mehrere Projekte entwickelt, um die Gemeinden bei der Mitgliedergewinnung zu unterstützen.

So haben wir zum Beispiel das Familienprogramm „Mischpacha“ gestartet. Dabei erhalten Familien, die sich anmelden, religiös geprägte Elternbriefe sowie Boxen mit Bastelmaterialien zu den jüdischen Feiertagen und kleinen Geschenken. „Mischpacha“ vermittelt jungen Familien jüdische Werte und Traditionen und soll sie an die jüdische Gemeinschaft binden. Seit Rosch Haschana 2018 sind rund 420 Kinder zwischen null und drei Jahren in den Genuss dieses Angebots gekommen. Und ihre Eltern natürlich auch. Daneben hat der Zentralrat zur Unterstützung der Gemeinden in diesem Jahr fünf Mischpacha-Seminare angeboten, die Grundlagen zur Familienarbeit in jüdischen Gemeinden vermittelten.

 

Dabei geht es dann zum Beispiel um ganz praktische Fragen, wie einen Raum mit gesicherten Steckdosen und einem Wickeltisch in der Toilette, aber vor allem geht es natürlich darum, wie die Bedürfnisse der unterschiedlichen Generationen in Einklang gebracht werden können, wie kostengünstige und niedrigschwellige Angebote geschaffen werden können. Oder wie ein Kiddusch familiengerecht gestaltet werden kann, so dass sich alle willkommen fühlen – die jungen Familien mit vielleicht manchmal lebhaften Kindern und die Beter, die seit Jahren an bestimmte Traditionen gewöhnt sind und Ruhe suchen am Schabbat.

Ich nehme an, dass Ihnen diese Herausforderungen nicht fremd sind. Dass Menschen heutzutage langfristige Bindungen scheuen, ist ja mitnichten nur ein Problem der Religionsgemeinschaften. Davon können ja auch Parteien und Vereine ein Lied singen.

Um genauer herauszufinden, welche Wünsche und Bedürfnisse unsere Mitglieder, vor allem aber auch, unsere ehemaligen oder Noch-nicht-Mitglieder haben, hat der Zentralrat jetzt eine große Umfrage gestartet, das Gemeindebarometer. Es handelt sich wirklich um eine professionelle Online-Befragung, die infas für uns entwickelt hat. Wir machen sie auch in mehreren Sprachen, um zum Beispiel auch Israelis zu erreichen, die in Deutschland leben, aber nicht Mitglied einer jüdischen Gemeinde sind. In gut einem Vierteljahr werden wir die Ergebnisse vorliegen haben. Es wird sich nicht erstaunen, dass es bei uns durchaus Menschen gibt, die nervös auf die Ergebnisse warten. Denn vermutlich werden die Befragten nicht nur in Lobeshymnen auf die Gemeinden und den Zentralrat ausgebrochen sein. Doch ich denke, es ist ganz wichtig, sich der Kritik zu stellen und Änderungswünsche ernst zu nehmen. Dann haben wir nämlich die Chance, gestärkt in die Zukunft zu gehen. 

Neben unserem Familienprogramm bieten wir den Gemeinden auch Fortbildungen an, damit sie sich in Gemeindemanagement, Buchhaltung, Pressearbeit oder rhetorisch professionalisieren können. Alle drei Jahre lädt der Zentralrat der Juden zu einem so genannten Gemeindetag nach Berlin ein. Dabei gibt es vier Tage lang Workshops und Podiumsdiskussionen zu aktuellen Themen, aber auch ein anspruchsvolles Kulturprogramm. Wir würden das gerne, wie Sie beim Kirchentag, auf Marktplätzen und ganz offen durchführen. Das ist aber aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Daher findet der Gemeindetag immer in einem großen Hotel statt, das in der Lage ist, 1.000 Menschen koscher zu verpflegen.

Dieses viertägige Programm ist für die Vernetzung unserer Mitglieder ungeheuer wichtig. Und es ist auch ein Dankeschön. Denn sehr viele arbeiten ehrenamtlich in den Gemeinden. Dass ihnen Wertschätzung entgegengebracht wird, findet ohnehin zu selten statt.

 

Ein wichtiger Aspekt für die Zukunftssicherung unserer Gemeinden ist auch die Ausbildung von Rabbinern. Es wird Ihnen bekannt sein, dass wir in Deutschland zwei Rabbinerseminare haben: das traditionell ausgerichtete Rabbinerseminar zu Berlin und das liberale Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Beider werden gleichermaßen vom Zentralrat der Juden finanziell gefördert.

Wir sind dadurch seit gut zehn Jahren in der Lage, immer mehr Gemeinden mit in Deutschland ausgebildeten Rabbinern ausstatten zu können. Die vielen Jahrzehnte, als in Deutschland fast ausschließlich ausländische Rabbiner tätig waren, sind vorbei. Das ist ein ungeheurer Fortschritt.

 

Viele unserer jungen Rabbiner sprechen herkunftsbedingt neben Deutsch auch russisch, was ein großer Vorteil ist, gerade bei der Betreuung der älteren Gemeindemitglieder. Rabbiner sind auch wichtig, damit die Synagoge das Herzstück der Gemeinde bleibt, nicht der Gemeindesaal mit seinen Kulturveranstaltungen.

 

Wenn ich über unsere Gemeinden spreche, muss ich auch das Thema Sicherheit erwähnen, das seit Halle schrecklich an Aktualität gewonnen hat.

 

In den meisten Bundesländern werden jüdische Einrichtungen gut und der Lage angemessen geschützt. Das verhandeln unsere Landesverbände und Jüdischen Gemeinden selbständig mit den Sicherheitsbehörden der Bundesländer.

 

Allerdings gab es in der Vergangenheit durchaus Lücken und auch nicht für jedes Land ein Sicherheitskonzept für den Schutz jüdischer Einrichtungen. In Halle hat sich dieses Versäumnis bitter gerächt. Daher war es überfällig, dass sich die Innenminister jetzt auf eine Überprüfung und Verbesserung der Schutzmaßnahmen verständigt haben.

 

An den Kosten der polizeilichen Maßnahmen werden die Jüdischen Gemeinden nicht beteiligt. Sie sind aber mit erheblichen Kosten für eigenes Sicherheitspersonal und teilweise mit Kosten für bauliche Schutzmaßnahmen belastet. Einige Bundesländer beteiligen sich an diesen Kosten, andere nicht. Sowohl finanziell als auch personell stoßen unsere Gemeinden hier mitunter an Grenzen.

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,

 

ich schaue gerade in recht betroffene Gesichter. Ja, massive Sicherheitsvorkehrungen sind Alltag in unseren Gemeinden, seit Jahrzehnten.

 

Und damit wäre ich beim Thema Antisemitismus.

 

Über die historischen Wurzeln des Antisemitismus in Deutschland muss ich hier nicht viele Worte verlieren. Gerade erst haben wir wieder der Novemberpogrome von 1938 gedacht.

 

Antisemitismus ist also wahrlich nichts Neues. Auch nach 1945 hat es ihn weiterhin gegeben. Auch schon vor 20 Jahren haben jüdische Eltern nach dem G’ttesdienst ihre Kinder gebeten, draußen die Kippa abzusetzen. Und auch schon vor 20, 30 Jahren erlebten Juden dumme Sprüche oder Beleidigungen, weil sie jüdisch waren.

 

Deutschland kann sich viel zugutehalten auf seine Aufarbeitung der NS-Zeit. Aber der Antisemitismus war selbst dann nicht verschwunden, als es nur noch rund 20.000 Juden in ganz Deutschland gab.

 

Doch schon vor dem Anschlag von Halle hatte sich das Bedrohungsgefühl in unserer Gemeinschaft verstärkt. Es waren verschiedene Ereignisse, die dazu beigetragen haben: der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel und auf die Synagoge in Kopenhagen sowie antisemitische Demonstrationen in Deutschland wegen des Gaza-Konflikts 2014, die für Juden beunruhigende Lage in Frankreich sowie der islamistische Terrorismus, der unsere Gesellschaft insgesamt verunsichert, erscheint Juden noch bedrohlicher, weil wir dezidiert zum Feindbild der Islamisten gehören.

 

Auch in Deutschland kam und kommt es regelmäßig zu antisemitischen Vorfällen. Um ein paar Beispiele allein aus Berlin zu nennen: Ein Rabbiner wurde vor einigen Jahren krankenhausreif geprügelt, der Inhaber eines israelischen Restaurants wurde auf widerliche Weise beleidigt, ein jüdischer Schüler wurde so stark gemobbt, dass seine Eltern ihn von der Schule genommen haben, und im Prenzlauer Berg wurde ein Mann mit Kippa mit einem Gürtel geschlagen.

 

Am Schlimmsten sind die Berichte der jungen Menschen von den Schulhöfen. Hier hat explosionsartig das Mobbing der jüdischen Schüler zugenommen. Bei den Führungen in meiner Kölner Synagoge für Schülerinnen und Schüler haben wir auch bisweilen Lehrerinnen und Lehrer, die uns berichten, dass sie kein jüdisches Kind an der Schule haben, aber dennoch die Worte „Du Jude“ als Schimpfworte verwendet werden.

 

Das Bedrohungsgefühl und die Sorgen, die sich in der jüdischen Gemeinschaft seit längerem breit machen, haben also handfeste Gründe. Insofern kam der Anschlag in Halle für viele nicht überraschend.

Nach der polizeilichen Kriminalstatistik in Deutschland werden die meisten antisemitischen Straftaten von Rechtsextremisten verübt.

 

Diese Statistik hat einen Haken: Alle Straftaten, für die kein Täter ermittelt werden konnte, werden automatisch unter politisch rechts subsumiert. Und wir müssen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Doch sehr die statistische Erfassung bislang auch Mängel hat, so bleibt doch festzuhalten, dass der Rechtsextremismus eine massive Bedrohung für Juden, aber auch für andere Minderheiten und damit für unser ganzes Land ist.

 

Auch darauf haben wir in den vergangenen Jahren verstärkt hingewiesen. Doch die Flüchtlingskrise, das Erstarken der AfD und Ereignisse wie der Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin haben dazu beigetragen, dass der Radikalisierung am äußeren rechten politischen Rand zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Und in den sozialen Netzwerken hatten Rechtsextreme viel zu lange viel zu viel Spielraum. Jetzt endlich wird politisch gegengesteuert – hoffentlich kommen die Maßnahmen nicht zu spät.

 

Neben dem Antisemitismus bei Rechtsextremisten muss auch der Antisemitismus unter Muslimen angesprochen werden, ohne Muslime damit unter Generalverdacht zu stellen. Aus Köln, aus meiner Heimatgemeinde, kann ich Ihnen berichten, dass wir mit einigen Muslimen eine gute Nachbarschaft und einen freundschaftlichen Austausch pflegen.

Es hilft aber auch nicht weiter, Probleme zu verschweigen. Unter Migranten aus dem arabischen Raum ist eine tiefe Abneigung gegen Israel und Juden generell sehr verbreitet. Das ist insofern nicht erstaunlich, als in ihren Herkunftsländern die Feindschaft zu Israel quasi zur Staatsräson gehört. Schon in der Schule erhalten die Kinder Landkarten, auf denen Israel fehlt. Es kommen also Menschen zu uns oder leben bereits in der zweiten und dritten Generation in Deutschland, die in zentralen Fragen ein völlig anderes Wertegerüst mitbringen, als es nach unserer Tradition oder nach unserem Grundgesetz üblich ist.

Ich habe das vorhin ja schon einmal erwähnt: Wertevermittlung halte ich bei der Integration für genauso wichtig wie die Vermittlung der Sprache.

 

Derzeit ist es aber so, dass in der Regel in den Integrationskursen nicht einmal die Hälfte der Absolventen den Deutschtest am Ende schafft. Wie soll ich unsere Werte vermitteln, wenn keine sprachliche Verständigung möglich ist?

 

Hier sollten Bund und Länder aus tiefstem Eigeninteresse deutlich mehr Geld in die Hand nehmen, um die Integration der Einwanderer und Flüchtlinge zu verbessern und nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen.

 

Schließlich möchte ich noch auf den Israel-bezogenen Antisemitismus zu sprechen kommen. Ich empfinde diese Form des Antisemitismus als besonders unangenehm. Denn wer ihn vertritt, sagt oft im Brustton der Überzeugung von sich, er sei kein Antisemit. Und da – um ehrlich zu sein – leider gerade bei kirchlich engagierten Menschen dieser Antisemitimus gar nicht selten anzutreffen ist, gestatten Sie mir ein paar Worte.

 

Es ist ja auch nicht lange her, dass es genau wegen dieses Themas zu einer tiefen Verstimmung zwischen dem Landesverband der jüdischen Gemeinden von Nordrhein und der Evangelischen Kirche im Rheinland kam. Die gemeinsame Israel-Reise, die geplant war, kam nicht zustande wegen des Beitrags eines Pfarrers, der von uns als einseitig gegen Israel gerichtet empfunden wurde.

Nach solchen Auseinandersetzungen wird häufig gefragt: Was ist noch legitime Kritik an Israel und was ist Antisemitismus?

Das ist eigentlich gar nicht so schwer zu unterscheiden. Wenn jemand eine Entscheidung der israelischen Regierung aus sachlichen Gründen kritisiert – warum nicht? Wenn jemand einen sozialen Missstand in Israel kritisiert – warum nicht? In vielen Medienberichten und Äußerungen von Privatpersonen ist die Kritik an Israel jedoch so massiv, dass man spürt: an Israel werden andere Maßstäbe angelegt als an andere Staaten. Und was schwingt dort mit? Ganz häufig eine Schuldabwehr: Deutsche erheben mit einer gewissen Zufriedenheit den Zeigefinger und sagen: Schaut, die Juden sind auch keine besseren Menschen. Wir wollen uns nicht mehr die Verbrechen der Nazis vorhalten lassen, denn was die Juden mit den Palästinensern machen, ist auch nichts anderes.

Das, meine Damen und Herren, ist Antisemitismus!

 

Das hat dann zur Folge – um ein Beispiel zu nennen – dass sich Palästinenserpräsident Abbas vor das Europäische Parlament stellen kann und dort behauptet, israelische Rabbiner hätten dazu angestiftet, das Trinkwasser der Palästinenser zu verunreinigen. Im Parlament erhält Abbas für seine Rede Applaus. Die Medien transportieren diese hanebüchene Aussage eins zu eins. Das alte Vorurteil der Juden als Brunnenvergifter steckt eben immer noch in den Köpfen. Das hat Abbas ausgenutzt. Und ihm wurde sofort Glauben geschenkt.

 

Mir ist klar, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass die Politik der israelischen Regierung auch Kritik hervorruft, und dass es für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern schon besser aussah als heute.

Das rechtfertigt es aber nicht, sich pauschal auf die Seite der Palästinenser als vermeintliche Opfer zu schlagen und Israels Existenz anzuzweifeln und den jüdischen Staat zu dämonisieren.

 

Genau dies tut übrigens die BDS-Bewegung. Diese Bewegung ruft nicht nur zum Boykott israelischer Produkte auf. Sie sorgt auch dafür, dass israelische Künstler von Festivals ausgeladen werden, dass andere Künstler einen Auftritt absagen, weil Israel zu den Sponsoren gehört und ähnliches. Die BDS-Bewegung möchte allen palästinensischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen das Rückkehrrecht nach Israel einräumen. Wenn das umgesetzt würde, meine Damen und Herren, wäre das das Ende des jüdischen Staates. Israel hat in den Augen von BDS keine Existenzberechtigung.

 

Der Beschluss des Bundestags, BDS keine Unterstützung zu gewähren, weil diese Bewegung Antisemitismus schürt, ist daher uneingeschränkt zu begrüßen.

 

Christen, die Israel an den Pranger stellen, sei gesagt: Selbst wenn dieses Reden nicht antisemitisch gemeint sind, stärkt sie zumindest den Antisemiten den Rücken!

 

Juden in Deutschland werden gerne für alles, was in Israel geschieht, in Generalhaftung genommen. Es wird Israel gesagt, aber Juden sind gemeint.

 

Doch jeder Bürger in diesem Land trägt eine Verantwortung dafür, wie er oder sie über andere Religionen und Minderheiten spricht. Es ist höchste Zeit, dass jeder selbstkritisch das eigene Reden prüfe!

 

Dies gilt angesichts der verbalen Enthemmung, die wir zunehmend und vor allem in Netz antreffen, mehr denn je.

Ein weiterer Schwachpunkt sind in meinen Augen die kirchlichen Körper. Was meine ich damit? 2005 hatte ich die Ehre Papst Benedikt in der Kölner Synagoge zu begrüßen. In meiner Ansprache habe ich ihm sinngemäß gesagt, dass die Leitung oder oberen Ebenen der Katholischen Kirche das Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft vorbildlich gestalten. Wenn ich das Bild einer Pyramide benutzen darf, ist aber nicht an jedem Punkt des Fundamentes der Pyramide diese veränderte Einstellung angekommen. Dies gilt in meinen Augen auch noch heute und auch in der protestantischen Kirche.

 

Ich habe jetzt zwei kritische Punkte im Verhältnis zwischen Juden und Christen erwähnt. Viel mehr liegt es mir aber am Herzen, auf die riesigen Fortschritte einzugehen, die zwischen beiden Religionen in den vergangenen 70 Jahren getan wurden. Erst jüngst wurde in Frankfurt das 70-jährige Bestehen des Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gefeiert. Wahrlich ein Grund zu feiern!

 

Heute hat die jüdische Gemeinschaft in den Kirchen sehr verlässliche Partner. Das zeigte sich besonders deutlich 2012, als das Landgericht in meiner Heimatstadt Köln sein Beschneidungs-Urteil fällte. Wie kein anderer stellten sich beide christlichen Kirchen an die Seite der jüdischen Gemeinschaft. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das Beschneidungsgesetz, das Ende 2012 verabschiedet wurde, auch ohne die Unterstützung der Kirchen durchgesetzt hätten.

 

Und seit Anfang dieses Jahres arbeiten wir daran, in der Bundeswehr Militärrabbiner zu etablieren. Hier ist uns die katholische und evangelische Militärseelsorge natürlich Vorbild. Wir haben bei unserer Initiative für Militärrabbiner von Anfang an das Gespräch mit den Kirchen gesucht. Nur wenn wir uns auf diesem Gebiet, das ja auch den lebenskundlichen Unterricht der Soldaten umfasst, abstimmen, kann die Einsetzung von Militärrabbinern ein Erfolg werden. Für unsere Initiative erhalten wir erhebliche Unterstützung der Kirchen, was für uns ungeheuer wertvoll ist. Und uns ist bewusst: Das ist nicht selbstverständlich.

 

Doch gerade in jüngster Zeit hat sich an vielen Beispielen gezeigt, wie sehr die Kirchen sich bewegt haben in ihrem Verhältnis zum Judentum: Auf katholischer Seite gab es nicht nur die Bekräftigung der Konzilserklärung „Nostra Aetate“, sondern steht mit Papst Franziskus ein Oberhaupt an der Spitze, das wie kein Papst vor ihm auf die jüdische Gemeinschaft zugeht.

 

Ebenso hat sich in der evangelischen Kirche viel getan. Das war vor allem 2017 im Jubiläumsjahr der Reformation zu spüren. Es wurde kein undifferenziertes Luther-Jubeljahr, sondern bot viele Angebote für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Reformator. Auch die Erklärungen der EKD-Synode rund um das Reformationsjubiläum waren aus jüdischer Sicht sehr zu begrüßen.

Diesen Erklärungen waren natürlich viele Schritte vorausgegangen, die diese kritische Ausrichtung des Reformationsjubiläums überhaupt erst möglich gemacht haben. Dazu zähle ich ausdrücklich den Rheinischen Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980. Mit diesem Beschluss hat Ihre Landeskirche damals Wegmarken gesetzt: im Bekenntnis der Mitverantwortung und Schuld der Kirche an der Schoa und mit der Absage an die Judenmission. Wir sollten auch heute immer mal wieder an solche wichtigen Papiere erinnern. Denn es besteht immer wieder die Gefahr, hinter Erreichtes zurückzufallen.

 

Als ganz wichtig erachte ich daher auch die neue Stiftungsprofessur für Geschichte und Gegenwart des jüdisch-christlichen Verhältnisses an der Humboldt-Universität zu Berlin, die auf Initiative der EKD zustande kam. Sie ermöglicht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zum Beispiel mit solchen Synodalbeschlüssen.

 

Generell fände ich es wichtig, dass in beiden Kirchen auch an der Basis ankommt, was in der Leitung oder auf Synoden beschlossen wird. Wenn ein Geistlicher vor Ort in seiner Gemeinde Ressentiments gegen Juden oder andere Minderheiten verbreitet, dann waren alle Erklärungen umsonst. Es wäre vielmehr nötig, dass sich auch die einzelnen Gemeinden aktiv für eine tolerante Gesellschaft engagieren, aus ihrem Glauben heraus.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, während der christlich-jüdische Dialog inzwischen eine 70-jährige Tradition in der Bundesrepublik hat, ist der Dialog mit dem Islam eher als erratisch zu bezeichnen. Es gibt sicherlich – und das ist unstrittig positiv zu bewerten – viele Begegnungen von Christen und Muslimen in ganz unterschiedlichen Foren. Sowohl auf höchster Funktionärsebene wie auf Ebene der Gemeinden und im Alltag. Das gilt übrigens auch für den jüdisch-muslimischen Dialog. Allerdings müssen wir auch immer wieder Rückschläge verzeichnen. Schon manche Initiative musste beerdigt werden, weil bei einem der muslimischen Partner Verbindungen zu Gruppen festgestellt wurden, die nicht wirklich auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen oder vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Die Zusammenarbeit mit den großen Verbänden ist auch mitunter schwierig: mal repräsentieren sie nur einen sehr kleinen Teil der Muslime in Deutschland, mal sind die Verbindungen zur Türkei, wie bei DITIB, so stark, dass türkischer Nationalismus den Dialog gefährdet.

 

Der Zentralrat der Juden hat in diesem Jahr mit Mitteln der Staatsministerin für Integration ein neues Projekt des jüdisch-muslimischen Dialogs gestartet: Wir haben es „Schalom Aleikum“ genannt. Dabei versuchen wir, jenseits der Funktionärsebene Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, also zum Beispiel jüdische und muslimische Start-up-Unternehmer. Oder jüdische und muslimische Lehrer. Häufig ist es bei den Veranstaltungen so, dass die Beteiligten mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede feststellen. Einige von ihnen hatten aber auch noch nie Berührung mit der anderen Religion. 

 

Derzeit arbeiten wir daran, dass das Projekt im nächsten Jahr weitergehen kann, damit wir Nachhaltigkeit in diese Begegnungen bringen können.

 

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich habe jetzt einen weiten Bogen geschlagen von den aktuellen Ereignissen, über Antisemitismus zum christlich-jüdischen Dialog und unserem Verhältnis zu den Muslimen. Letztlich geht es immer wieder um die Frage: Wo verorten wir uns in der Gesellschaft? Wie blickt die Gesellschaft auf uns? Nimmt sie uns als Teil wahr oder schiebt uns als „jüdische Mitbürger“ ein Stück an den Rand?

 

Ich möchte auf eines der wichtigsten Gebote im Judentum verweisen. Es lautet „Tikkum Olam“ – mach‘ die Welt ein Stückchen besser, repariere die Welt.

Das kann jeder im ganz Kleinen, und zusammen ergibt es dann etwas sehr Großes. Viele von Ihnen werden den berühmten Spruch aus dem Talmud kennen: „Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört.“

 

Darin drücken sich zwei jüdische Grundprinzipien aus: der Wert des Lebens, das an höchster Stelle steht, sowie der Gedanke, dass ein Einzelner seinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten kann. Zu einer schlechteren ebenso!

 

Angesichts der momentanen politischen Lage in Deutschland und übrigens auch in Europa halte ich diesen Grundgedanken des Judentums für eine perfekte Richtschnur.

 

Sich passiv vor den Fernseher zu setzen und über die Wahlerfolge der Rechtspopulisten zu jammern – das bringt der Welt nicht viel.

Aus Ärger über andere Parteien mein Kreuzchen in der Wahlkabine bei der AfD zu setzen, um damit meinen Protest auszudrücken – ja, da muss ich ehrlich sagen: Wer so denkt, der hat gar nichts verstanden.

 

Zuallererst haben diese Menschen nicht verstanden, was wählen bedeutet. Meine Stimme ist vor allen Dingen eine Unterstützung FÜR ein bestimmtes politisches Programm. Und nicht GEGEN die Programme der anderen Parteien.

Und wenn ich eine Partei wähle, dann wähle ich immer das Gesamtpaket.

 

Wenn ich AfD wähle, dann wähle ich auch Politiker, die die Nazi-Zeit als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnen oder politische Gruppierungen, die enge Kontakte zu Rechtsextremisten pflegen. Davor darf niemand die Augen verschließen. Und die Ausrede „Das habe ich nicht gewusst“ ist seit 1945 moralisch diskreditiert.

Doch wenn wir das Gebot ernstnehmen, dass jeder Mensch seinen kleinen Beitrag dazu leisten kann, die Welt zu verbessern, dann heißt das, aktiv zu werden.

Aktiv gegen politische Parteien, die unser Land spalten wollen, die Menschen mit dunkler Hautfarbe, Muslime, Asylbewerber und Ausländer gerne verbannen würden. Die mit ihrem Reden rechtsextremistische Ansichten stärken und salonfähig machen.

„Tikkum Olam“ bedeutet für mich auch, mich aktiv für Bedürftige oder Randgruppen einzusetzen, etwa für Flüchtlinge. Ich finde es richtig, dass die evangelische Kirche weiter an diesem Thema bleibt, obwohl es aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden ist.

„Tikkum Olam“ bedeutet auch, sich für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen einzusetzen. Es wird zum Teil viel Häme über die Fridays-for-Future-Bewegung und über Greta Thunberg ausgegossen. Abgesehen davon, dass eine solche Haltung sich weder mit christlichen noch mit jüdischen Werten vereinbaren lässt, finde ich diese Abwertung auch in der Sache gänzlich unangemessen. Die jungen Leute haben bereits viel erreicht. Und sie verfolgen mit friedlichen Mitteln ihre Ziele. Ich wüsste nicht, was daran schlecht sein sollte.

 

Das Gebot, die Welt zu reparieren, beinhaltet auch die Botschaft, dass sie reparaturbedürftig ist. Das stimmt in der Tat.

Und so möchte ich zum Schluss noch einmal auf die derzeitige Stimmungslage in der jüdischen Gemeinschaft zu sprechen kommen.

Der Angriff auf die Synagoge in Halle war eine Zäsur. Sorgen und Vorsicht sind seitdem gewachsen. Zugleich aber auch unser Trotz. Wir werden nicht weichen!

 

Es gibt und gab schon immer einzelne Juden, die zum Beispiel aus familiären Gründen nach Israel auswandern. Oder aus beruflichen Gründen in ein anderes Land gehen, so wie andere Menschen auch.

 

Doch es gibt weder eine Auswanderungswelle noch sind es weite Teile der Community, die über Auswanderung nachdenken.

Ganz schlicht ausgedrückt: Wir wollen bleiben! Denn Deutschland ist unser Zuhause!

 

Warum sollen wir gehen, nur weil andere etwas gegen uns haben?

 

Das ist letztlich eine ähnliche Frage wie: Sollen wir es noch wagen, den Weihnachtsmarkt zu besuchen oder bleiben wir aus Angst vor einem Anschlag zu Hause?

 

Es gibt keinen Grund, uns einreden zu lassen, Deutschland stehe am Abgrund.

 

Es gibt aber Anlass, genau hinzuschauen auf die gesellschaftliche Entwicklung. Die jüdische Gemeinschaft ist dabei so etwas wie ein Seismograph der Demokratie. So wie ein Seismograph eine Bodenerschütterung früher als ein Mensch wahrnehmen kann, so reagieren wir Juden vielleicht etwas sensibler auf spalterische und ausgrenzende Tendenzen in der Gesellschaft als die Mehrheitsbevölkerung.

 

Nehmen Sie also unsere Beunruhigung ernst. Denn es geht hier nicht nur um eine einzelne Gruppe, sondern um unser Land.

So möchte ich Ihnen zum Schluss ein Zitat von Martin Buber mit auf den Weg geben:

 

 

„Wer eine Lehre von mir erwartet, die etwas anderes ist als eine Hinzeigung, wird stets enttäuscht werden. Es will mir jedoch scheinen, daß es in unserer Weltstunde überhaupt nicht darauf ankommt, feste Lehre zu besitzen, sondern darauf, ewige Wirklichkeit zu erkennen und aus ihrer Kraft gegenwärtiger Wirklichkeit standzuhalten. Es ist in dieser Wüstennacht kein Weg zu zeigen; es ist zu helfen, mit bereiter Seele zu beharren, bis der Morgen dämmert und ein Weg sichtbar wird, wo niemand ihn ahnte.“